Paul Pfeffer
Setzt die Gender-Brille ab!
Nur Anschauungen, die kritischen Argumenten
ausgesetzt werden, können sich bewähren. (Hans Albert)
1. Die Konfliktlage
Wer sich die Diskussion der letzten Jahre zum Thema Gendersprache genauer anschaut, stellt fest, dass der Streit zwischen Befürwortern und Kritikern des Genderns immer wieder an dieselben Punkte kommt und dann im Unfrieden abbricht. Das ist ein Indiz dafür, dass die Standpunkte im Kern unvereinbar sind. Ich teile diesen Befund, möchte aber zur Klärung der Frage beitragen, woran das liegt.
Ich stelle Unvereinbarkeiten auf drei Ebenen fest, die miteinander verknüpft sind:
- wissenschaftstheoretisch: Die
Erkenntnisinteressen, Prämissen und Herangehensweisen an den Gegenstand Sprache und die Wahrnehmung der sprachlichen Phänomene sind nicht vereinbar.
- sprachwissenschaftlich: Es gibt keine Einigung darüber, welche Funktion das generische
Maskulinum im Sprachsystem und für die Sprachverwender hat. Ebenso gehen die Meinungen über zulässige bzw. unzulässige Eingriffe ins Sprachsystem auseinander.
- gesellschaftspolitisch: Die einen
betreiben traditionelle Sprachwissenschaft, verstehen sich als Anwälte der Sprache und wollen sie vor ideologisch motivierten Eingriffen schützen. Die anderen nehmen ihre Agenda in den Fokus,
betreiben „feministische Linguistik“, verstehen sich als Aktivisten des gesellschaftlichen Fortschritts und machen Sprachpolitik.
Zu jedem dieser Punkt müsste ich eigentlich eine eigene Abhandlung schreiben. Es zeigt sich schnell, dass das Problem zu komplex ist, als dass man es in einem Interview oder im Talkshow-Format erfassen könnte. Damit erklärt sich auch die Beobachtung, dass das Thema Gendern im öffentlichen Diskurs meist nur oberflächlich und unbefriedigend abgehandelt wird.
Ich will mich im Folgenden auf einige zentrale Punkte konzentrieren ohne den Anspruch, das Thema erschöpfend zu behandeln.
2. Die Gender-Brille – Aktivismus statt Wissenschaft?
Die Kontroverse betrifft unterschiedliche Bereiche der Sprache und unterschiedliche Arten von Eingriffen. In der aktuellen Diskussion ist das generische Maskulinum der zentrale Zankapfel. Deshalb will ich die unterschiedlichen Sichtweisen auf die Sprache an diesem Beispiel abhandeln. Dabei positioniere ich mich klar als Kritiker der feministischen Linguistik.
Das Problem ist, dass es beim Blick auf das generische Maskulinum aktuell zwei unvereinbare Sichtweisen gibt:
- Die eine Sichtweise auf die Sprache ist eine feministische und aktivistische. Die Sprachfeministinnen haben eine feministische Agenda und gehen an die Sprache mit einem bestimmten Erkenntnisinteresse und bestimmten Prämissen heran: Sie behaupten, Deutsch sei eine „Männersprache“ (L. Pusch), sei strukturell männerdominiert und müsse in eine „Frauensprache“ (S. Trömel-Plötz) umgeformt werden, Frauen würden in der deutschen Sprache „unsichtbar gemacht“ und diskriminiert. Das geht bis zu der Behauptung, Frauen würden in der deutschen Sprache „vergewaltigt“. Aus diesem Grund verstehen sie sich weniger als Wissenschaftler denn als politische Aktivisten und bekämpfen sprachliche Formen und Strukturen, die sie für „männlich“ halten oder die „männlich“ klingen, unter anderem auch das generische Maskulinum, das für die Sprachaktivistinnen ein zentraler Beleg für die Unterdrückung der Frauen durch die „Männersprache Deutsch“ ist.
- Die andere Sichtweise auf die Sprache ist eine beschreibende und analytische. Diese Wissenschaftsauffassung wird etwa von Sprachwissenschaftlern wie Peter Eisenberg vertreten. Angestrebt wird eine
ergebnisoffene Betrachtungsweise, eine politische Agenda wird explizit nicht verfolgt. Das generische Maskulinum ist für die überwiegende
Mehrheit der Sprachwissenschaftler eine sexusneutrale Sammelform, die alle Personen einschließt, die bestimmte Merkmale aufweisen. Dieser
traditionelle Blick auf die Sprache und das generische Maskulinum wird von den Sprachaktivistinnen als „pseudo-neutral, gestrig und überholt“ bezeichnet.
Es dürfte klar geworden sein, dass ich mich der zweiten Sichtweise anschließe und mit Eisenberg und anderen das Gendern
für undurchdachten Aktionismus am ungeeigneten Objekt halte.
Der feministische Sprachaktivismus, der Mainstream-Feminismus und insbesondere die Gender-Theorie in Form des Gender-Mainstreaming haben in den letzten Jahren die Wahrnehmung einiger Aktivistinnen (und ihrer Nachahmer) so verändert, dass sie im generischen Maskulinum ein Feindbild sehen, das bekämpft werden muss. Genus wird fälschlicherweise mit Sexus gleichgesetzt, so dass alles, was an der Sprache irgendwie „männlich“ klingt oder aussieht, abgelehnt wird. Das ist eine schon fast zwanghaft zu nennende Fixierung auf das Geschlecht.
Ich nenne diese Verschiebung der Wahrnehmung „Gender-Brille“.
3. Das generische Maskulinum eignet sich nicht als Feindbild!
Die feministischen Sprachwissenschaftlerinnen und die Befürworter des Genderns behaupten, im generischen Maskulinum „die Wähler“, „(der) Wähler“, „Wähler“ würden die Frauen „unsichtbar gemacht“. Bei einem Ausdruck wie „die Wähler“ würden (ausschließlich) Männer angesprochen, die Frauen würden lediglich „mitgemeint“. Die Sprachaktivistinnen wirken deshalb darauf hin, dass zukünftig von Wählenden oder Wähler*innen gesprochen wird. Nur in der substantivierten Partizipform „Wählende“ oder mit *_:/Innen, -x, ens seien alle möglichen Geschlechter angesprochen.
Diese Sichtweise ist aber nur nachvollziehbar, wenn man wenig Wissen über das Sprachsystem und die Gender-Brille auf der Nase hat.
Genus und Sexus müssen voneinander unterschieden werden. Die grammatischen „Geschlechter“ (Genus, pl. Genera) folgen nicht der Logik des Sexus, des biologischen Geschlechts, sondern sie sind historisch gewachsen, sie sind sprachliche Übereinkünfte. Bis heute hat die Sprachwissenschaft zwar einige Erklärungsansätze, aber keine plausible Erklärung für die Entstehung der Genera gefunden. Der deutsche Begriff „Geschlecht“ für das lateinische „Genus“ ist im Übrigen eine unglückliche Übersetzung und stiftet Verwirrung, ebenso die Begriffe „männlich“, „weiblich“ und „sächlich“. Besser wäre „Genus 1, 2, 3“.
Sprachwissenschaftlich gesehen sind generische Pluralformen wie z. B. „die Wähler“ oder Sammelbegriffe wie „(der) Wähler“ im Hinblick auf den Sexus neutral. Es sind Sammelformen, sie bezeichnen einfach nur Personen, die wählen. Es werden weder Frauen noch Männer „gemeint“ oder „mitgemeint“, sondern alle wählenden Menschen/Personen sind eingeschlossen, unabhängig von ihrem biologischen Geschlecht (Sexus).
Genus und Sexus haben nur in wenigen Fällen direkt miteinander zu tun, zum Beispiel dann, wenn Lebewesen allgemein oder Menschen und ihre Funktionen/Rollen/Tätigkeiten/Berufe bezeichnet werden.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass bei den Sammelformen für Lebewesen alle drei Genera zur Anwendung kommen. Für die männlichen bzw. weiblichen Individuen einer Spezies gibt es (teilweise) eigene Formen. Das ist ein weiterer Beleg dafür, dass Genus und Sexus unterschieden werden müssen:
Genus maskulinum:
der Elefant/Elefanten > der Elefantenbulle/die Elefantenkuh
der Specht/Spechte > das Weibchen/das Männchen usw.
Genus femininum:
die Katze/Katzen > die Katze/der Kater;
die Schlange/Schlangen > das Männchen/das Weibchen usw.
Genus neutrum:
das Rind/Rinder > die Kuh/der Stier bzw. Bulle, Ochse
das Pferd/Pferde > die Stute/der Hengst usw.
Beispiele für die notwendige Unterscheidung zwischen Genus und Sexus sind bei der Spezies Mensch „die Person“ und „der Mensch“. Das Genus ist femininum bzw. maskulinum, aber es sind natürlich alle Geschlechter (und sexuelle Idetitäten) eingeschlossen. Niemand (außer Sprachaktivistinnen?) käme auf die Idee, dass mit „Personen“ nur Frauen und mit „Menschen“ nur Männer gemeint sein könnten. Ebenso bei „das Individuum“, das vom Genus her neutrum ist, aber natürlich alle Individuen aller Geschlechter bezeichnet.
Dass die generischen Formen mit den männlichen verwechselt werden können, hat Gründe. Das Deutsche verwendet nämlich gleichlautende Wörter (Homonyme) in unterschiedlichen grammatischen Funktionen. Beispiele:
"Der Mann" und "der Frau":
„Der“ bei „der Mann“ ist z. B. der Marker für Nominativ, Singular, maskulinum. Es ist aber auch der Marker für Genitiv und Dativ Singular, femininum bei „der Frau“ sowie für Genitiv Plural, femininum bei „der Frauen“. (Das bringt meine italienische Freundin Carla, die gerade Deutsch lernt, dazu, zu sagen: "Wieso sagt ihr 'der Frau'? Ihr spinnt, ihr Deutschen!")
"Die Frau" und "die Männer":
„Die“ ist ein Marker für Nominativ und Akkusativ Singular, femininum bei „die Frau“, es ist aber auch der Marker für alle Plural-Formen „die Männer, die Frauen, die Kinder …“
Fazit: Die generischen Formen müssen von den männlichen Formen unterschieden werden, obwohl (oder gerade weil) sie gleich klingen. Mit den generisch gebrauchten Formen "Wähler" oder „der Wähler“ oder „die Wähler“ sind weder Männer noch Frauen gemeint, sondern alle Personen, die wählen. „Der Wähler“ kann allerdings in bestimmten Kontexten auch ausschließlich auf einen Mann bezogen werden. Dann ist es eine sexusbezogene Form. Für die Ansprache von Frauen stehen im Deutschen eigene abgeleitete Formen bereit: „Wählerin“ kann nur „weibliche Person, die wählt“, bedeuten, weil das zugrunde liegende Wort „Wähler“ „Person, die wählt“, bedeutet und nicht „männliche Person, die wählt“.
Das (bewusste?) Missverständnis der Sprachfeministinnen liegt darin begründet, dass sie nicht akzeptieren wollen oder können, dass Sexus und Genus nur an wenigen Punkten etwas miteinander zu tun haben. Sie müssten dazu die Gender-Brille absetzen, was sie aber nicht tun.
Dass im Deutschen das generische Maskulinum als Sammelform verwendet wird, ist nicht der Bosheit der Männer oder "dem strukturellen Patriarchat" geschuldet, sondern es hat sich sprachgeschichtlich so entwickelt und wurde (und wird!) von den Sprecherinnen und Sprechern des Deutschen als sprachökonomisch praktikabel empfunden, es ist einfach die kürzeste Form. Der sprachfeministische Vorwurf, die Frauen würden im generischen Maskulinum unterdrückt, „unsichtbar“ gemacht“, „ausgelöscht“ oder gar „vergewaltigt“, läuft bei Licht betrachtet ins Leere.
4. Unbedachte Eingriffe ins Sprachsystem
Die Problematik punktueller und unbedachter Eingriffe ins Sprachsystem lässt sich am besten an einem Beispiel zeigen: "Studenten" sind alle Personen, die
an einer Universität eingeschrieben sind. Es ist abwegig, sie "Studierende" zu nennen, wie es neuerdings Mode geworden ist, denn dieses substantivierte Partizip ist nicht bedeutungsgleich
mit "Studenten". Die Nomen mit der Endung -enten (oder anten) bezeichnen einen Status, das substantivierte Partizip bezeichnet eine (laufende) Tätigkeit. Ein Diskutant ist nicht ein
Diskutierender. Ich bin zum Beispiel ein Studierender, ohne Student zu sein.
Hier wird ins Sprachsystem eingegriffen, ohne die Konsequenzen zu bedenken. Bei "Absolventen" wird das besonders deutlich, machen Sie die Probe: "Absolvierende" geht als Ersatz für "Absolventen"
gar nicht. Die Gender-Ratgeber schlagen „einen Abschluss innehabende Personen“ als Ersatz vor. Ich überlasse es den Lesern, zu beurteilen, ob das eine praktikable Lösung ist.
Die Sprachaktivistinnen versuchen punktuell, die Sprache zu „entmännlichen“, ohne tieferen Einblick in das Sprachsystem zu haben und ohne auf die
Verallgemeinerbarkeit ihrer Eingriffe zu achten.
Ich schätze Luise Pusch für ihren gelegentlich aufblitzenden Humor, halte ihren wissenschaftlichen Ansatz aber für verfehlt. Sie und ihre Nachahmerinnen
sind ihrer feministischen Agenda stärker verpflichtet als dem Gegenstand Sprache, man kann ihre Art, Wissenschaft zu betreiben, als Agenda-Wissenschaft bezeichnen.
„Feministische Sprachwissenschaft“ ist vergleichbar mit „katholischer Mathematik“. Sie ist in Gefahr, Dogmen und Denkverbote zu errichten und das herauszufinden, was sie
vorher an Prämissen hineingesteckt hat. Insofern handelt es sich nicht um ergebnisoffene Wissenschaft, sondern um politischen Aktivismus und letztlich um eine Mode-Ideologie. Undurchdachte und
ideologisch motiverte Eingriffe in das gewachsene Sprachsystem sind nicht nur überflüssig, sondern verursachen grammatisches Durcheinander. Sie schaffen viele neue Zweifelsfälle und sprachliche
Unklarheiten, oft sogar sprachlichen Unsinn. Man schaue sich nur die Gender-Ratgeber an.
Mit radikalen Aktivistens wie Professens Hornscheidt, dens eine absolut genderneutrale Sprache propagieren, beschäftige ich mich hier nicht. Die Akzeptanz für ein von den Genera und allen
„männlich“ gedeuteten Anteilen gereinigtes Deutsch liegt vermutlich bei knapp über null Prozent.
Die Begründung für die Verwendung von Zeichen wie *_: ist, dass sie im Namen von „Gerechtigkeit“ den nichtbinären Anteil der Bevölkerung sichtbar machen sollen. Es stellt sich hier die Frage, ob „queere“, intersexuelle und andere Minderheiten im Sprachsystem repräsentiert sein können. Meine Anwort: Minderheiten gleich welcher Art haben allen Anspruch auf Schutz, Respekt und Gleichberechtigung nach Art. 3 GG, sie können aber nicht den Anspruch erheben, im Sprachsystem repräsentiert zu sein. Die existierenden generischen Formen sind dafür da, alle einzuschließen.
5. Assoziationsstudien liefern keine Argumente für das Gendern
Das Verhältnis von Sprache und Bewusstsein oder Sprechen und Denken ist eins der schwierigsten Kapitel der Sprachphilosophie und der Psycholinguistik. Eine Untersuchung und vorläufige Beantwortung der Frage, wie Sprechen und Denken zusammenhängen, ist aber wesentlich sowohl für das Gendern wie auch die Kritik daran. Das Problem ist, dass sich die relevanten Vorgänge im Gehirn abspielen und dass sie dort behandelt werden als black-box-Phänomene, wie das die Hirnforschung generell tun muss, auch wenn sie inzwischen raffinierte bildgebende Verfahren entwickelt hat.
Meine Kritik an den Sprachaktivistinnen ist, dass sie den Zusammenhang zwischen Sprache/Sprechen und Bewusstsein/Denken unzulässig vereinfachen und damit die wahren Faktoren des Sprachwandels verkennen.
Die Gender-Theorie sowie die Sprachaktivistinnen unterstellen einen unmittelbaren, manchmal sogar linearen Zusammenhang zwischen Sprechen und Denken nach dem Muster: Die Sprache beeinflusst das Denken, also müssen wir die Sprache ändern, damit sich das Denken ändert. Deshalb kann überhaupt erst die Idee aufkommen, dass über feministische Sprachpolitik (Gendern) ein neues Denken (in Richtung mehr Geschlechtergerechtigkeit) gefördert werden könnte.
Ich bestreite nicht, dass die Sprache in einigen Bereichen "männerlastig" ist oder zu sein scheint. Ich bestreite aber, dass Assoziationsstudien Argumente für das Gendern liefern. Von sprachaktivistischer Seite werden oft solche Studien und Befragungen ins Feld geführt, die zeigen sollen, dass bestimmte Begriffe ausschließlich oder überwiegend männlich konnotiert sind. Das ist trivial.
Dass bei generisch maskulinen Ausdrücken wie Ingenieure, Ärzte, Experten, Forscher etc. vorwiegend Männer assoziiert werden, liegt nicht an der Sprache, am "Patriarchat"
oder der Boshaftigkeit der Männer, sondern an den historisch entstandenen (aktuellen) Realitäten. Wir sind da auf einem guten Weg, die Entwicklung ist im Gange, Frauen suchen sich in der
Gesellschaft ihren Platz. Die Konnotationen werden sich dann ändern, wenn sich die Realitäten ändern, wenn also Frauen in nennenswerter Anzahl zum Beispiel den Ingenieursberuf ergreifen.
Bei Putzkraft, Erzieher, Hebamme, Küchenpersonal etc. werden fast immer Frauen assoziiert.
Auch das wird sich nur ändern, wenn mehr Männer sich zum Beispiel für den Erzieherberuf entscheiden. Bei Grundschullehrer
hat sich schon ein Wandel vollzogen. Vor 50 Jahren wurden mit dem Begriff vorwiegend Männer assoziiert, jetzt sind es eindeutig Frauen, weil der Beruf
fast ausschließlich von Frauen ausgeübt wird.
Für mich liegt das Problem in der sprachfeministischen Schlussfolgerung: Daraus, dass bei "Ingenieur" vorwiegend Männer assoziiert werden, wird geschlossen, dass die Sprache durch Zusatzzeichen
wie Doppelpunkt, Innen, /innen,*,x, etc. oder durch die Verwendung des „generischen Femininums“ als Standardform „verweiblicht“ werden müsse. Man schraubt an der Sprache herum, statt die
gesellschaftlichen Realitäten in den Blick zu nehmen und dort für Veränderungen zu sorgen.
"Es ist ziemlich naiv, zu glauben, dass mehr junge Frauen den Ingenieursberuf wählen, wenn von „Ingenieur*innen“ die Rede ist statt von „Ingenieuren“.
Dazu sind ganz andere Voraussetzungen nötig, nämlich nachhaltiges Interesse an Mathematik, Naturwissenschaften und Technik."
Das sage
nicht ich, sondern meine Schwiegertochter, die Ingenieurin für Prozessleittechnik ist und sich selbst gerne als "Ingenieur" bezeichnet (gegenüber Machos bezeichnet sie sich aber demonstrativ als
„Ingenieurin“). Ich ergänze: Um mehr Mädchen zu ermutigen, den Ingenieursberuf zu ergreifen, ist auch ein zukunftsorientiertes Bildungssystem nötig, das wir leider (noch) nicht haben.
Festzuhalten ist: Die Sprache entwickelt sich weiter über den Sprachgebrauch, nicht durch eine feministische Sprachpolitik mit Sprachregelungen von oben. Sie wird sich in Richtung auf mehr Geschlechtergerechtigkeit wandeln, wenn in der gesellschaftlichen Realität mehr Gerechtigkeit erreicht ist.
6. Moralische Aufladung des Themas als Diskurshindernis
Jeder, der sich im ideologisch verminten Gelände „Gendern“ bewegt, kann feststellen, dass es nur selten zu einem argumentativen Austausch kommt. Nach kurzer Zeit haut man sich die Glaubenssätze um die Ohren, beschimpft und etikettiert sich gegenseitig. Am schlimmsten ist es, wenn die Moralkeule ausgepackt wird.
Anatol Stefanowitsch, einer der Propagandisten des Genderns, hat ein Buch geschrieben mit dem Titel „Eine Frage der Moral – Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“. Mich würde interessieren, ob ihm bewusst ist, dass er mit einer solchen Formulierung dazu beiträgt, die Diskussion moralisch aufzuladen und damit den Diskurs zu vergiften. Die Befürworter des Genderns verwenden bekanntlich ein bestimmtes Framing („gerecht, sensibel, divers, inklusiv …“). Dieses Framing ist schlau gewählt insofern, als es für sich die moralische Oberhoheit in Anspruch nimmt. Menschen wie ich, die das Gendern kritisieren, können so direkt oder indirekt als „ungerecht, unsensibel, frauenfeindlich, transfeindlich …“ oder sogar „rechts“ moralisch diskreditiert werden. In der Tat werde ich mit solchen Begriffen belegt, wenn ich mich im Netz als Kritiker des Genderns positioniere.
Ist das Gendern, ist die politisch korrekte Sprache tatsächlich eine Frage der Moral? Ich möchte, dass Anatol Stefanowitsch mir ein paar Fragen dazu beantwortet: Hat er die „bessere“ Moral, weil er gendert, und ich die „schlechtere“, weil ich nicht gendere? Kann er zwischen dem Sprechen als Handeln (parole) und der Sprache als System (langue) nicht unterscheiden? Ist er sich bewusst, dass er einen Kategorienfehler macht, wenn er die Sprache „gerecht“ oder „sensibel“ nennt? Findet er es gut, mit „Sehr geehrte*r Zuschauer*in“ angeredet zu werden, wie es der ZDF-Zuschauerservice praktiziert hat?
„Ist politisch korrektes Gendern eine Frage der Moral?“ ist die falsche Frage. Ich plädiere dafür, folgende Fragen zu stellen:
- Führt Gendern zu mehr Geschlechtergerechtigkeit?
- In welcher Form ist es für die gesamte (!) Sprachgemeinschaft akzeptabel?
- Ist es legitim, den Sprecherinnen und Sprechern des Deutschen eine Sprachpolitik zu verordnen?
- Was kann als respektvoller Umgang in und mit der Sprache gelten?
- Wer entscheidet, wie gesprochen und geschrieben werden soll?
Es kann übrigens nicht davon die Rede sein, dass das Gendern „in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist“ (L. Pusch), wie gelegentlich behauptet wird. Das kann nur behaupten, wer sein akademisches Umfeld für die Mitte der Gesellschaft hält und sich nicht bei „normalen“ Leuten umhört. Das Gendern der Sprache wird in allen repräsentativen Umfragen von einer Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt. Was mich am meisten stört: Das Gendern ist inzwischen zu einem sozialen Distinktionsmerkmal geworden. Wer gendert denn? Es sind diejenigen, die sich für eine akdemische und moralische Elite halten. Wer gendert, kann sich als Speerspitze des gesellschaftlichen Fortschritts und moralisch höherwertig fühlen, ohne viel dafür einzusetzen, und man kann auf die herabschauen, die nicht gendern. Diese Spaltung der Sprachgemeinschaft ist politisch brisant.
Meine Erfahrung geht dahin, dass die moralische Aufladung des Themas ein großes Diskurshindernis ist. Hier ist unbedingt Abrüstung angesagt. Wir müssen den Diskurs entgiften und dazu kommen, dass wir über das Für und Wider des Genderns ohne Schaum vor dem Mund reden können. Dass die Standpunkte unvereinbar sind, darf nicht dazu führen, dass wir uns wie feindliche Stämme zähnefletschend gegenüberstehen.
7. Kritisches Fazit
Das Gendern der Sprache ist bereits im theoretischen Ansatz problematisch, weil der Impuls von der Gender-Theorie ausgeht, nicht vom tatsächlichen Sprachgebrauch. Es ist verfehlt, die Diskriminierung von Frauen im Sprachsystem zu verorten und daran herumzuschrauben. Sprache verändert sich durch den Sprachgebrauch und nicht am sprachfeministischen Reißbrett. Sie verändert sich von unten nach oben, nicht umgekehrt, es sei denn, man betreibt bewusst Sprachpolitik in politischer/manipulativer Absicht.
In der praktischen Wirkung ist das Gendern der Sprache kontraproduktiv. Mehr Geschlechtergerechtigkeit wird nicht durch Sprachvorschriften erreicht, sondern durch politische und gesellschaftliche Veränderungen, wie sie in den letzten fünfzig Jahren verstärkt stattgefunden haben. Dieser Prozess wird weitergehen, und die Sprache wird ihn angemessen abbilden. Das kann vielleicht etwas länger dauern, als bestimmte Aktivisten es sich wünschen. Eine feministische Sprachpolitik braucht es dazu nicht. Es ist – nebenbei bemerkt – schon irritierend, wenn ausgerechnet Menschen, die sich selbst für sensibel und achtsam halten, keine Skrupel haben, die Sprache zu verunstalten. Die Sprache kann sich halt nicht wehren oder verweigern – die Sprecherinnen und Sprecher aber sehr wohl. Alle repräsentativen Umfragen ergeben eine klare Mehrheit gegen das Gendern.
Das Gendern ist in meinen Augen ein Versuch, ein bestimmtes Denken durch die Veränderung der Sprache zu erreichen. Ich will es zwar nicht mit der Praxis totalitärer Systeme vergleichen, dazu ist es zu harmlos, aber es wird von einer einflussreichen Minderheit propagiert, die moralischen und politischen Druck zur Durchsetzung ihrer Ziele einsetzt. Oft wird argumentiert, es würden ja lediglich Vorschläge gemacht. Jeder könne es mit dem Gendern halten, wie er wolle. Das verkennt aber die Realität. Abgesehen davon, dass man nicht mehr von „Vorschlägen" sprechen kann, wenn ins Sprachsystem eingegriffen wird, ist das Gendern inzwischen durch feministische Sprachwissenschaftlerinnen sowie Frauen- und „Gleichstellungs“-beauftragte an Universitäten, in Verwaltungen, Parteien und anderen Institutionen zum Standard (!) erhoben worden. Obwohl die Verfechter des Genderns eine kleine Minderheit sind, haben sie Macht. Ihr Hebel ist eine feministische Moral. Wer sich der neuen Sprachpolitik verweigert, gilt als rechts, frauenfeindlich, reaktionär, gestrig und muss mit Sanktionen rechnen. Sachargumente aus der Sprachwissenschaft haben keine Chance, denn nicht die Sache – die Sprache – ist wichtig, sondern die „richtige“ Gesinnung.
Letztlich geht es nicht um Gerechtigkeit, sondern um Deutungshoheit und Macht. Der Mehrheit soll eine Sprachregelung verordnet werden, um das Bewusstsein in Richtung der Gender-Theorie zu verändern. Man kann das auch Manipulation und Bevormundung nennen. Geschlechtergerechtigkeit wird dadurch nicht befördert, eher im Gegenteil. Das Gendern der Sprache durch eine Minderheit aus dem akademischen Umfeld erweist der Sache der (Frauen)-Emanzipation einen Bärendienst, weil die Veränderungen im Kern sprachfremd sind und weil die Mehrheit der Sprecherinnen und Sprecher Eingriffe „von oben“ in das Sprachsystem ablehnt.
Die Ablehnung des Genderns ist oft intuitiv, weil die meisten Menschen wenig Einblick in das Sprachsystem haben, aber merken, dass da etwas in die falsche Richtung läuft. Die Zustimmung auf der anderen Seite ist oft blind, weil sie aus einer Mischung aus Unkenntnis über die Funktionsweise der Sprache, schlechtem Gewissen, Opportunismus und falscher Solidarität mit den Sprachaktivistinnen erfolgt.
Dass Sprachaktivistinnen
das Gendern forcieren
- hat keine sprachwissenschaftliche Grundlage und offenbart Unkenntnis der sprachlichen Grundtatsachen
- führt in der Konsequenz zur sprachlichen, ideologischen und sozialen Spaltung der Sprachgemeinschaft
- baut überflüssigerweise falsche Fronten auf und ist für die Sache der Frauen kontraproduktiv
- verbraucht geistige und materielle Ressourcen, die an anderer Stelle sinnvoller eingesetzt wären
8. Wie kann es weitergehen?
Zunächst sollen noch einmal die Eckpunkte festgehalten werden:
Gerechtigkeit, Respekt und Sensibilität sind keine Kategorien der Sprache, sondern ihrer Anwender. Respekt und Wertschätzung hängen nicht von der
Sprache als System ab, sondern von den Einstellungen der Sprecher.
Gendern legt ein unangemessen großes Gewicht auf den Sexus, und zwar auch dort, wo er keine Rolle spielt und auch keine spielen sollte.
Das Sprachhandeln muss vom Sprachsystem unterschieden werden. Die „Unterdrückung der Frauen“ im Sprachsystem zu verorten und zu bekämpfen, ist abwegig.
Es ist ebenfalls abwegig, die Sprache als Vehikel zur Durchsetzung einer politischen – in diesem Fall feministischen – Agenda benutzen zu wollen.
Deshalb meine Empfehlung: Setzt die Gender-Brille ab! Die aktuell geltenden Formen der deutschen Sprache (generisches Maskulinum, elegante Umschreibungen, dosierte Beidnennungen, wie sie zum Beispiel „genderleicht“ oder https://taz.de/Gendern-als-Ausschlusskriterium/!5782080/ vorschlagen), reichen aus, um gutes Deutsch zu schreiben, respektvoll miteinander zu reden, elegant zu formulieren, hinreichend zu differenzieren und alle „sichtbar zu machen“.
Selbstverständlich darf das Gendern nicht verboten werden. Jeder, der mag, soll gendern dürfen. Aber es darf andererseits auch nicht verordnet oder gegen Androhung von Sanktionen „empfohlen“ werden. Es sollte aber einstweilen aus den Schulen herausgehalten werden, weil es in der derzeitigen Form Verwirrung stiftet. Meine Hoffnung ist, dass das Gendern auf lange Sicht Episode bleibt, weil es von der Mehrheit der Sprecherinnen und Sprecher nicht angewendet wird. Die deutsche Sprache wird es hoffentlich abschütteln, wie sie schon so manche Eingriffe von verschiedenster Seite abgeschüttelt hat.
Anatol Stefanowitsch ist zwar ein Befürworter des Genderns, aber hier gebe ich ihm recht:
„Überlassen wir es unterschiedlichen Interessengruppen, unterschiedliche und vielfältige Vorschläge zu machen und überlassen es dem freien Spiel der Kräfte, welche Formen sich am Ende durchsetzen. So (und nur so) funktioniert Sprachwandel ohnehin.“ (Anatol Stefanowitsch)
So ist es! Allerdings müssen wir dafür sorgen, dass die Kräfte frei spielen können.
Zum Autor:
Paul Pfeffer, Jahrgang 1948, Studium der Germanistik, Sprachwissenschaft, Politikwissenschaft, Ökonomie und Philosophie, fast 40 Jahre lang Lehrer und Lehrerfortbildner, jetzt Autor, Verleger, Sprachwissenschaftler, Musiker
Paul Pfeffer
Meisenweg 12
65779 Kelkheim
06195-62519