Die übermäßig schöne Prinzessin

Es war einmal eine Prinzessin, die war schon als Baby so schön, dass niemand an ihrer Wiege vorbeigehen konnte, ohne in helles Entzücken auszubrechen. Sogar die Leute, die sich vornahmen, nicht beeindruckt zu sein, vergaßen beim Anblick des strahlend schönen Kindes ihre guten Vorsätze und füllten den Raum mit ihren Aahs und Oohs. Das hörte auch nicht auf, als das Prinzesschen älter wurde, im Gegenteil. Tagsüber war sie schon als Zwölfjährige gewöhnlich von einer Schar Bewunderer umgeben und nachts musste man Wachen vor ihrem Zimmer aufstellen, um zu verhindern, dass die Fans ihr Bett stürmten. Eigenartig war nur, dass der ganze Rummel die kleine Prinzessin selbst ziemlich kalt zu lassen schien. Meistens lächelte sie bloß und nickte den Leuten freundlich zu.
Mit der Zeit nahm ihre Schönheit noch zu, so dass manche anfingen, ihren Anblick zu meiden, weil sie es einfach nicht aushielten. Aber das war eine kleine Minderheit. Die meisten suchten ihre Nähe, sonnten sich in ihrem Glanz, machten die unglaublichsten Komplimente und scharwenzelten den ganzen Tag um sie herum. Von ihrem sechzehnten Geburtstag an war das Schloss die meiste Zeit mit schwer verliebten Prinzen aus dem In- und Ausland gefüllt, die sich alle erdenkliche Mühe gaben, die Aufmerksamkeit der Prinzessin zu erregen. Bei diesem ganzen Trubel fiel überhaupt nicht auf, dass die Prinzessin nie auch nur ein Wort sprach. Sie lächelte, verneigte sich dann und wann und schritt zierlich umher. Aber sie sprach nicht.
Bei ihrem achtzehnten Geburtstag wurde es endlich offenbar: Die Prinzessin konnte nicht sprechen. Sie war ganz und gar stumm. Es hatte nur niemand bemerkt in der ganzen Zeit wegen der Millionen Worte, die um ihrer Schönheit willen gemacht worden waren, wegen der vielen Komplimente und der tausendfachen Aahs und Oohs. Sogar der Amme war es nicht aufgefallen. Und dem König und der Königin schon gar nicht, denn königliche Eltern haben Wichtigeres zu tun, als sich um ihre Kinder zu kümmern.
Als die Stummheit der Prinzessin sich herumsprach, wurde es noch schlimmer als vorher, denn nun wollte jeder – aber wirklich jeder! – die wunderwunderschöne und dazu noch stumme Prinzessin sehen.
Die Prinzessin ertrug den Wirbel um ihre Person mit Haltung. Sie war freundlich und schritt nach wie vor zierlich umher, aber sie lächelte nicht mehr so oft wie früher. Sie war gerade zwanzig geworden und die vielen Leute, die sie mit einer Mischung aus Mitleid und Verehrung anstarrten, gingen ihr zunehmend auf die Nerven. Als die Leute anfingen, hinter vorgehaltener Hand zu tuscheln, sie sei eine Heilige und könne Wunder wirken, wenn man sie berühre, hatte sie endgültig genug von dem ganzen Rummel. In einer dunklen Neumondnacht zog sie sich die Kleider einer Magd über, versteckte ihr goldenes Haar unter einem schäbigen Kopftuch und schlich sich an den schlafenden Wachen vorbei aus dem Schloss hinaus.
Es war das erste Mal, dass sie das Schloss verließ. Sie stellte sehr schnell fest, dass sie sich überhaupt nicht auskannte. Alles war neu für sie. Um nicht auf Leute zu treffen, vermied sie die Straßen und wanderte lange am Fluss entlang. Als der Morgen graute, taten ihr die Füße so weh, dass sie sich hinsetzen musste. Sie ging mit letzter Kraft auf eine große Erle zu. Im letzten Moment sah sie, dass da schon jemand an der Uferböschung saß. Es war ihr gleichgültig. Erschöpft ließ sie sich ins Gras fallen.
„Guten Morgen“, kam eine angenehme Stimme von links.
Die Prinzessin schaute die Gestalt genauer an. Es war ein junger Mann, der da saß und angelte. Er schien sie weiter nicht zu beachten. Als sie ein wenig verschnauft hatte, setzte sich neben ihn und ließ ihre brennenden Füße ins kühle Wasser baumeln. Von Zeit zu Zeit warf sie ihm einen verstohlenen Blick zu. Aber er schaute kein einziges Mal zu ihr herüber. Er schien sich nur auf seine Angel zu konzentrieren. Das wunderte sie ein bisschen, doch sie schrieb es ihrem Aufzug zu. Eigentlich war sie auch erleichtert. Endlich starrte sie einer mal nicht an!
„Ich kenne dich zwar nicht und du scheinst auch nicht sehr höflich zu sein“, sagte der junge Mann plötzlich, „aber du könntest mir einen Gefallen tun.“
Er hatte wirklich eine angenehme Stimme. Die Prinzessin hätte gern etwas gesagt, aber sie konnte ja nicht. Da sprach der junge Mann schon weiter:
„Siehst du die kleine Dose hinter mir? Das sind Würmer drin. Holst du mir einen davon heraus?“
Die Prinzessin schluckte. Sie hatte noch nie einen Wurm in der Hand gehabt und eigentlich ekelte sie sich vor solchem Getier. Aber sie nahm tapfer die Dose, fischte einen Wurm heraus und hielt ihn dem jungen Mann hin. Der hatte inzwischen die Angel eingeholt und den Haken vorbereitet.
„Leg ihn mir aufs Knie“, sagte er. „Ich heiße übrigens Karl.“
Die Prinzessin tat, wie ihr geheißen wurde. Fachmännisch spießte Karl den Wurm auf den Haken und warf die Angel wieder aus.
Dann saßen sie mindestens eine Stunde lang stumm nebeneinander. Angler reden nicht viel. Von Zeit zu Zeit zog Karl die Angel ein, und die Prinzessin klaubte einen frischen Wurm aus der Dose. Sie fingen keinen einzigen Fisch, aber sie fanden das Angeln beide ganz angenehm.
Inzwischen war es hell geworden und die Sonne ging auf. Karl holte die Angel ein und tastete nach etwas. Da erst bemerkte die Prinzessin, dass er nicht sehen konnte. Neben ihm im Gras lag ein weißer Blindenstock. Sie half ihm das Angelzeug zusammenzupacken. Dann gingen sie zusammen am Fluss entlang auf den Kirchturm eines Dorfes zu. Nach einer Weile fasste die Prinzessin Mut und hakte sich bei dem jungen Mann ein.
„Du bist nicht sehr gesprächig“, bemerkte Karl. „Normalerweise schwätzen mir die Leute ein Ohr ab, weil sie mir alles erklären wollen, was sie sehen. Besonders an einem solchen Morgen, wenn die Sonne scheint.“
Die Prinzessin lächelte und kuschelte sich im Gehen ein bisschen an ihn.
„Wenn du mich führst, brauche ich den Stock gar nicht.“
Die Prinzessin streichelte seinen Arm.
„Dann bist du also stumm, was?“, fragte Karl.
Da nahm die Prinzessin Karls Hand und drückte sie lange und fest.
„Du hast zarte Hände“, sagte er. „Lass uns zu mir nach Hause gehen, ich lade dich zum Frühstück ein.“
Und sie gingen Arm in Arm weiter.
Die Prinzessin hieß übrigens Karla. Und das war schon irgendwie ein märchenhafter Zufall.

 

(c) Paul Pfeffer