Muriel

 

Ich hatte ihn mir älter vorgestellt, auch kleiner und verwachsener. Aber dieser Mensch, der mir da gegenüberstand, hielt sich nicht an meine Glöckner-von-Notre-Dame-Fantasien. Er war ein hoch aufgeschossener Mann, vielleicht Ende dreißig, mit aschblondem, schon etwas schütterem Haar und einem servilen Dauerlächeln im Gesicht. Nein, das war kein dämonischer Glöckner, sondern nur eine Art Küster.

 

Er hielt mir einen Schlüsselbund hin.

 

„Seien Sie vorsichtig“, sagte er. Seine Stimme war leise und auffallend sanft mit einem leicht singenden Tonfall. „Auf den Treppen ist es dunkel und die Brüstungen oben sind an einigen Stellen brüchig. Der Sandstein hält die Frankfurter Luft nicht lange aus, und wir haben für die Reparaturen zurzeit leider kein Geld.“

 

Ich nahm den Schlüsselbund in die Hand. Er war ziemlich schwer, obwohl es nur fünf oder sechs Schlüssel waren. Ich ließ einige Sekunden verstreichen. Jetzt musste ich die Frage stellen, um deretwillen ich hier war:

 

„Ist auch der Schlüssel zur oberen Galerie dabei?“.

 

Der Mann, der sich bereits abgewandt hatte, schaute mich überrascht an. Sein Lächeln bröckelte.

 

„Zur oberen Galerie?“, echote er, „Da hinauf wollen Sie?“

 

„Ja“, sagte ich und versuchte meiner Stimme einen unbefangenen Klang zu geben.

 

Er schüttelte den Kopf. Er zögerte.

 

„Bitte“, sagte ich schnell, „der Dom interessiert mich mehr als alles andere. Ich habe Ihnen ja bereits von meinen Forschungen erzählt.“

 

„Ja“, sagte er gedehnt und musterte mich mit seinen Wasseraugen, „Sie haben gesagt, Sie schreiben ein Buch über die Frankfurter Stadtgeschichte …“ Seine Stimme klang so, als glaubte er mir nicht mehr.

 

„Bitte“, sagte ich noch einmal.

 

„Auf der oberen Galerie war schon seit langer Zeit niemand mehr. Ich glaube, bei der letzten Renovierung war zum letzten Mal jemand dort. Aber nur Steinmetze und Bauarbeiter. Und die auch nur mit Gerüst. Es ist gefährlich da oben, nichts für Touristen.“

 

„Ich bin kein Tourist.“

 

Mein entschiedener Ton machte ihm zu schaffen. Ich sah, wie er mit sich kämpfte. Sein Lächeln war einem fast ängstlichen Gesichtsausdruck gewichen. Er wurde nervös.

 

„Ich weiß auch gar nicht, wo der Schlüssel ist. Ich müsste nachsehen.“

 

Das war der Augenblick für den ersten Zwanzig-Euro-Schein aus meiner Hosentasche.

 

„Dann sehen Sie nach.“

 

Er zögerte. Er war sichtlich verlegen. Aber er nahm den Schein.

 

„Warten Sie hier. Es kann dauern“, sagte er ohne mich anzuschauen. Dann verschwand er in einer kleinen Tür des Seitenschiffs, die ich vorher gar nicht bemerkt hatte.

 

Ich hatte mir die Skizze meines Urgroßvaters lange angeschaut. Seit ich seine Tagebücher gelesen hatte, ließ mich das Bild dieses Schlüssels nicht mehr los. Sein Griff bestand aus drei ineinander verschlungenen Ringen. Ich hatte mir seine Form genau eingeprägt.

 

Ich ließ meinen Blick über die Wände und die Gewölbe des Hauptschiffes wandern. Unglaublich, was die Menschen früher für Energien aufgewendet hatten, um ihre Gotteshäuser zu bauen. Nur der Glaube setzte solche Kräfte frei. Und die Hoffnung. Allenfalls noch die Liebe.

 

Ich musste grinsen. Glaube, Hoffnung und Liebe. Ausgerechnet diese drei fielen mir jetzt ein. Bei meinem Urgroßvater fiel der erste Grund mit Sicherheit aus.

 

 

 

Mein Urgroßvater Nikodemus. Der Freigeist. Jeder in der Familie wusste, dass er lästerliche Reden gegen die Religion und vor allem gegen die Kirche geführt hatte. Es war auch bekannt, dass er als Steinmetz am Frankfurter Dom gearbeitet hatte und dass er kurz nach seinem dreiunddreißigsten Geburtstag bei einem Unfall ums Leben gekommen war. Die einen sagten, dass er das Gleichgewicht verloren habe und vom Gerüst gestürzt sei, die anderen behaupten steif und fest, er sei von einem herabfallenden Stein tödlich getroffen worden. Alle wussten etwas, aber niemand wusste etwas Genaues. Es war überhaupt so, dass über dem Leben meines Urgroßvaters eine gewisse Unschärfe zu liegen schien. Wenn die Rede auf ihn kam, was selten genug geschah, versickerte das Gespräch nach kurzer Zeit.

 

Kürzlich war mein Großvater Jakob gestorben, der einzige Sohn von Nikodemus. Mein Großvater war ein leidenschaftlicher Sammler gewesen. Er konnte nichts wegwerfen. Weil niemand seine chaotische und nach Katzendreck stinkende Wohnung auflösen wollte, hatte ich es gemacht. So war ich durch Zufall auf die Tagebücher meines Urgroßvaters gestoßen. Sie lagen verstaubt und vergessen auf dem Speicher, zuunterst in der Schublade eines alten Schrankes. Es waren drei gebundene Bücher, ziemlich eng beschrieben und mit zahlreichen Zeichnungen versehen. Ich konnte feststellen, dass Nikodemus nicht nur ein guter Steinmetz, sondern auch ein begabter Zeichner gewesen war. An den Zeichnungen und Skizzen blieb ich zuerst hängen.

 

Und dann fing ich an zu lesen. Ich verbrachte zwei Stunden auf dem Speicher und konnte nicht mehr aufhören.

 

 

 

Eine Bewegung unterbrach meine Gedanken. Die unscheinbare Tür in der Wand des Seitenschiffes drehte sich lautlos in den Angeln. Der Küster erschien wieder. In der Hand hatte er den Schlüssel mit den drei Ringen. Ich spürte, wie mir auf einmal das Herz bis zum Hals schlug.

 

„Ich wusste gar nicht, dass er noch da war“, sagte er mit einem schnellen Seitenblick, „und eigentlich darf ich ihn auch gar nicht aus der Hand geben…“ Er misstraute mir ganz offensichtlich.

 

Ich fasste in die Hosentasche und brachte meinen zweiten Zwanzig-Euro-Schein zum Einsatz. Der Küster schnaufte einmal tief und nahm wortlos den Schein. Ich sah, wie seine Mundwinkel zucken. Er kämpfte immer noch, aber er konnte nicht widerstehen. Er steckte das Geld in seine Hosentasche, ging wortlos zum großen Portal und verschloss es. Die offizielle Besuchszeit war zu Ende. Im Dom waren jetzt nur noch er und ich.

 

Als er wieder zurückkam, jagte er mir einen Schrecken ein. Er ging direkt auf die Tür zu. Ich fürchtete schon, dass er es sich anders überlegt hatte und mit dem Schlüssel einfach verschwinden wollte. Dann aber streckte er sich kurz und schob ihn oben auf den Türsturz. Er wollte ihn mir nicht in die Hand geben.

 

„Wenn Sie zurück sind, legen Sie den Schlüssel wieder hier hin“, murmelte er vor sich hin. „Durch diese Tür kommen Sie übrigens auch hinaus.“

 

Ich konnte sein Misstrauen bis in die Zehenspitzen spüren. Im nächsten Augenblick war er verschwunden.

 

Jetzt war es an mir, mich zu strecken und den Schlüssel von dem Türsturz herunter zu holen. Er war kleiner, als ich gedacht hatte, nur wenig größer als auf der Zeichnung im Tagebuch.

 

 

 

Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war inzwischen später Nachmittag geworden. Gedämpfte Sonnenstrahlen fielen durch die hohen Fenster und tauchten das Kircheninnere in ein diffuses Dämmerlicht. Ich musste mich beeilen, wenn ich noch nach oben wollte.

 

Den Schlüssel zum Turmeingang fand ich auf Anhieb. Knarrend öffnete sich die schwere Tür und gab den Weg zu einer düsteren Treppe frei. Licht fiel nur durch einen schmalen Schacht von oben ins Innere. Ich suchte nach dem Schalter. Es war keiner da. Einen Augenblick überlegte ich, ob ich die Tür hinter mir abschließen sollte. Ich ließ es sein. Zunächst war die Treppe noch breit und ziemlich bequem zu steigen. An der unberührten Staubschicht sah ich, dass hier lange niemand gegangen war. Jetzt wurde mir die Bedeutung meines Schlüsselbundes klar. Das Innere des Turmes war in Stockwerke unterteilt. Wuchtige Balkenkonstruktionen trugen das Treppenhaus. Die sechs Schlüssel waren für die Türen zu den sechs endlos hohen Stockwerken dieses Treppenhauses.

 

 

 

Mein Urgroßvater hatte ein Geheimnis gehabt, soviel ging aus seinen Tagebüchern hervor. Aber seine Notizen waren nicht sehr aufschlussreich. Ich hatte lediglich herausgefunden, dass es etwas dem Schlüssel in meiner Hand und dem Turm des Frankfurter Doms zu tun hatte. Und mit einem Engel. Auf den ersten Blick war es eine sehr verworrene Geschichte. Nach und nach schälten sich aus den Bruchstücken ein paar Zusammenhänge heraus.

 

Nikodemus war in den Jahren zwischen 1908 und 1911 als Steinmetz auf dem Turm beschäftigt gewesen. Dort musste etwas entstanden sein, was Nikodemus in seinen Aufzeichnungen als „Engel von meiner Hand“ bezeichnet hatte. Irgendwo am Frankfurter Dom musste es einen Engel geben, den mein Urgroßvater geschaffen hatte. Für mich war das ein elektrisierendes Stichwort. Engel hatten meine Fantasie schon seit jeher beschäftigt. Es war klar, dass ich ihn sehen musste. Was dieser Engel mit einer Frau, die mein Urgroßvater „meine über alles geliebte M.“ nannte, zu tun hatte, ging aus den Tagebüchern allerdings nicht eindeutig hervor. Klar war nur, dass sie eine wichtige Rolle spielte. Es gab einige wenige Bemerkungen über sie, deren Sinn mir aber nicht klar wurde. Zum Beispiel schrieb er an einer Stelle von „M., die gewohnt ist, hoch oben zu leben“. Außerdem lagen auf losen Blättern ein paar grobe Skizzen von einer Skulptur und einem Gesicht bei, die aber zum größten Teil ausradiert waren. Und dann gab es noch die sehr detailgenaue Zeichnung von dem Schlüssel mit den drei Ringen.

 

Es schien so, als habe es mein Urgroßvater absichtlich bei Andeutungen belassen, als habe er die Geschehnisse bewusst oder unbewusst mit einem Nebelschleier umgeben. Nikodemus hatte sein Geheimnis zwar nicht verschwiegen, aber auch nicht preisgegeben. Aber warum? Weil er es nicht wollte? Oder weil er nicht konnte? Wer war diese geheimnisvolle M.? Gab es einen Zusammenhang zwischen ihr und dem Engel? Lauter offene Fragen. Gewiss war jedenfalls, dass Nikodemus das Tagebuch bis zu seinem tödlichen Unfall geführt hatte. Sogar an seinem Todestag hatte er morgens noch eine Eintragung gemacht. Sie lautete: „Nach M. sehen!!

 

Wahrscheinlich war ich der einzige außer ihm selber, der die Aufzeichnungen überhaupt zu Gesicht bekommen hatte. Mein Großvater Jakob kannte sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht, sonst hätte er sicher davon gesprochen.

 

 

 

Im zweiten Stockwerk sah es ähnlich aus wie im ersten. Die Treppe führte in breiten Stufen nach oben ins Dunkel. Ab dem dritten Stock wurde es enger, dafür etwas heller. Es roch nach Taubendreck und dem Staub von Jahrhunderten. Meine Beine wurden langsam schwer. Ich spürte meine Oberschenkel. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass ich mich beeilen musste. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis die Sonne unterging. Ich beschleunigte meinen Schritt. Staub wirbelte hoch. Ich bekam ihn in die Nase und musste husten. Im vierten Stockwerk musste ich an den Glocken vorbei, die düster und drohend in ihren Traggestellen hingen. Das fünfte Stockwerk machte mir zu schaffen. obwohl ich mein Tempo schon stark verlangsamt hatte. Es wurde immer enger, und die Treppen schienen kein Ende zu nehmen.

 

Endlich war ich oben. Schwer atmend schloss ich die Tür zum sechsten Stockwerk auf. Drinnen war es beinahe finster. Nur von oben drangen einige spärliche Lichtstrahlen herein. Ich tastete mich Schritt für Schritt nach vorn, stieß an die Wände eines kleinen Verschlages und schließlich an ein Treppengeländer. Die letzte Treppe schien eine hölzerne Wendeltreppe zu sein. Als ich die erste Stufe betrat, knarrte sie bedrohlich. Langsam und mit halb geschlossenen Augen zog ich mich am Geländer hoch, bis es nicht mehr weiter ging. Irgendwo musste hier die Tür sein, in deren Schloss mein letzter Schlüssel passte. Ich tappte auf dem Holzboden herum und musste eine Weile suchen, biss ich sie fand. Ich zog den siebten Schlüssel aus der Hosentasche, den mit den dreifachen Ringen. Mit einiger Mühe konnte ich ihn ins Schloss stecken. Aber er ließ sich nicht bewegen. Der Mechanismus schien eingerostet zu sein. Ich nahm beide Hände zu Hilfe und drehte mit aller Kraft. Endlich gab das Schloss nach, der Schlüssel drehte sich einmal, zweimal. Ich drückte die Klinke herunter, und die Tür schwang knarrend nach außen auf.

 

Im ersten Moment sah ich gar nichts. Die tief stehende Sonne schien mir direkt ins Gesicht. Erst nach einigen Sekunden konnte ich etwas erkennen. Was ich sah, ließ mir den Atem stocken. Ein sehr schmales steinernes Band ohne Geländer führte um den Turm herum. Nach außen war es lediglich mit einem niedrigen Absatz versehen. Dieser Gang wurde wohl normalerweise nicht ohne Gerüst benutzt.

 

Mein Urgroßvater hatte in seinem Tagebuch erwähnt, dass er sich über Wochen auf dieser Galerie aufgehalten hatte, um das Maßwerk zu erneuern. Er hatte sie als gefährlich beschrieben, und er hatte Recht damit. Man musste absolut schwindelfrei sein, um hier zu arbeiten. Ich war zwar auch schwindelfrei, aber mir wurde doch schwach in den Knien, als ich den ersten Schritt hinaus wagte. Noch hatte ich keine rechte Ahnung, wonach ich eigentlich genau suchte.

 

Ich tastete mich langsam voran, immer mit einer Hand an der Turmschräge und ganz vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend. Dabei vermied ich es, in die Tiefe zu schauen. Der Turm hatte hier oben keinen großen Durchmesser mehr. Langsam wurde ich sicherer. Ich umrundete einmal die Galerie, bis ich wieder an der Tür angekommen war. Ich hatte fein gearbeitetes Maßwerk gesehen, steinerne Ornamente aus rötlichem Sandstein, die zum Turmabschluss hoch führten. Aber keinen Engel. Wo konnte er sein? Hatte ich etwas übersehen? Ich setzte zu einer zweiten Umrundung an. Auf der anderen Seite der Galerie, genau gegenüber der Tür, fand ich auf dem Boden endlich eine Spur. Dort waren die Buchstaben N. und B. in den Sandstein eingeritzt. Man konnte sie leicht übersehen, denn sie waren schon ziemlich verwittert. N. B., Nikodemus Balzer. Das waren die Initialen meines Urgroßvaters. Es sah so aus, als habe er auf etwas hinweisen wollen, was sich unterhalb der Galerie befand. Es konnte gar nicht anders sein, denn weiter oben gab es nur die Turmwand und die Ornamente. Vorsichtig richtete ich mich auf und versuchte hinunter zu spähen. Es war unmöglich. Sobald ich es versuchte, wurde mein Stand unsicher und der Schwindel erfasste mich. Ich durfte nicht zu viel riskieren. Also merkte ich mir die Richtung, verschloss die Tür wieder und machte mich an den Abstieg.

 

 

 

Noch am selben Abend weihte ich Bernhard ein. Er war mein bester Freund und ein ziemlich kluger Mensch. Außerdem war er Besitzer von schätzungsweise hundert Fotoapparaten. Darunter solche mit Super-Teleobjektiv, mit denen man jeden einzelnen Krater auf dem Mond fotografieren konnte. Ich erzählte ihm vom Tagebuch meines Urgroßvaters und meinem Ausflug auf den Frankfurter Dom.

 

Am nächsten Morgen nahmen wir die Turmpartie unterhalb der oberen Galerie aus verschiedenen Blickwinkeln auf. Das steinerne Band wurde von acht lebensgroßen Engelfiguren getragen, die man von unten kaum wahrnahm. Wir machten Aufnahmen von allen. Sieben waren fast identisch und nicht sehr interessant, Dutzendware, wie man sie damals in Manufakturen herzustellen pflegte. Aber der achte war etwas Besonderes. Es war der, der sich genau unter der Signatur N.B. befand.

 

Vor uns lagen vier Fotos, gestochen scharf. Wir hatten die besten ausgesucht. Alle zeigten dieselbe Figur. Auf der ersten ganz links war sie vollständig zu sehen. Auf der letzten Aufnahme sah man nur das Gesicht. Es war gestochen scharf wie ein Porträt.

 

„Unglaublich!“, murmelte Bernhard und schüttelte den Kopf. Lange hatte er nichts gesagt, nur geschaut. Er war normalerweise nicht leicht zu beeindrucken, aber was er sah, verschlug ihm den Atem.

 

„Warum hat er das gemacht?“, fragte ich.

 

„Eigentlich nichts Ungewöhnliches“, sagte Bernhard, „Viele Steinmetze haben wunderbare Skulpturen an Domen geschaffen, die niemals jemand zu Gesicht bekommen wird.“

 

„Aber weshalb?“

 

„Alles zur höheren Ehre Gottes.“

 

„Und dieser Engel hier?“ Ich deutete auf die Fotos.

 

„Der ist allerdings ungewöhnlich.“ Bernhard hob die Brauen und legte seine Stirn in Falten.

 

Wir betrachteten zusammen die Fotos.

 

„Ob er den auch zur höheren Ehre Gottes geschaffen hat?“

 

Bernhard verzog die Mundwinkel.

 

„Das glaube ich nicht. Dazu ist er zu...“

 

„Zu… was?“

 

„Ich weiß nicht.“

 

Der Engel schaute uns an. Es war das Porträt einer jungen Frau. Einer außergewöhnlich schönen jungen Frau. Mir fiel bei ihrem Anblick sofort das Wort Anmut ein.

 

„Sie hat einen Ausdruck, den ich bei einer Skulptur noch nie gesehen habe“, sagte Bernhard bedächtig, „Sie sieht aus wie … wie eine Zauberin. Man muss aufpassen, dass man sich nicht in sie verliebt.“ Aus Bernhards Mund war eine solche Äußerung sehr ungewöhnlich. Ein Beweis dafür, wie fasziniert er war.

 

„Wahrscheinlich ist es M.“

 

„Wer ist M.?“

 

„Die Frau, die Nikodemus einige Male in seinen Tagebüchern erwähnt hat.“

 

Bernhard stützte den Kopf in die Hand.

 

„Dein Urgroßvater war ein großer Künstler.“

 

„Und er muss diese Frau sehr geliebt haben“, ergänzte ich.

 

Bernhard nickte.

 

„Sonst hätte er dieses Gesicht nicht schaffen können. Nicht … nicht so.“

 

Eine Zeitlang schauten wir nur auf die Fotografie.

 

„Irgendwie hat sie einen schmerzlichen Ausdruck“, sagte ich in die Stille.

 

„Ist mir auch schon aufgefallen.“

 

Bernhard nahm das Foto hoch und betrachtete es genauer.

 

„Aber da ist noch etwas anderes.“ Er zögerte. „Schmerz und… Leidenschaft.“

 

„Wie bitte?“ Ich starrte ihn an.

 

„Ja, Leidenschaft“, sagte Bernhard.

 

Ich nahm ihm das Foto aus der Hand und sah sofort, dass er Recht hatte.

 

Es war offensichtlich, dass mein Urgroßvater, der Steinmetz Nikodemus Balzer, einen von den acht Engeln ganz oben am Frankfurter Dom heimlich bearbeitet und ein neues Kunstwerk daraus geschaffen hatte. Schmaler, ausdrucksstärker, individueller als die anderen. Die Hauptsache aber war das Gesicht dieser Figur. Es war das Antlitz einer Frau, die meinem Urgroßvater viel bedeutet haben musste.

 

Ich trug eine Menge Engel-Bilder mit mir im Kopf herum, die alle etwas gemeinsam hatten: Sie hatten mit der Realität nicht viel zu tun. Bei meinem Urgroßvater schien das anders gewesen zu sein. Er hatte für seinen Engel ein sehr reales Vorbild gehabt.

 

Ich musste herausfinden, wer diese Frau war. Wer M. war.

 

 

 

Ich durchstöberte die Kirchenbücher und die Domarchive. Meine Chancen standen schlecht. Ich hatte nicht viel in der Hand außer dem Namenskürzel. Natürlich gab es in den Jahren von 1908 bis 1911 einige Dutzend Personen, deren Namen mit M. abgekürzt werden konnte, aber nur wenige stimmte mit meinem Profil überein: M. war weiblich, zur fraglichen Zeit zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt und musste in Frankfurt oder Umgebung gelebt haben. Es gab ein paar Marias, Margaretes, Mariannes und Marthas, die in Frage kamen. Ich ging allen Spuren nach. Sie erwiesen sich alle als falsch. Mir war nach kurzer Zeit klar, dass ich so nicht weiter kommen würde.

 

 

 

„Warum ist es dir denn so wichtig, herauszufinden, wer diese M. ist?“, fragte Bernhard. Wir saßen bei einem Apfelwein in einer der Kneipen am Römerberg.

 

„Keine Ahnung. Ich will es eben wissen.“ Das klang nicht besonders überzeugend, eher trotzig. Bernhard schaute mich skeptisch an.

 

„Es könnte sein, dass ihr Name gar nicht mit M. anfängt. Dass es nur ein Deckname ist. Dein Urgroßvater hatte vielleicht etwas geheim zu halten.“

 

Daran hatte ich auch schon gedacht. Aber ich wollte es nicht wahr haben. Dann wäre die Suche nämlich völlig aussichtslos gewesen. Ich sagte es Bernhard.

 

„Tja, das war’s dann wohl“, meinte er, „Nikodemus hat alle Spuren verwischt. Wer M. war, wird wohl für immer sein Geheimnis bleiben.“

 

Ich musste in diesem Moment ziemlich belämmert ausgesehen haben, so dass Bernhard sich bemüßigt fühlte, mich zu trösten.

 

„Vielleicht war diese Frau gar nicht von hier. Vielleicht…“

 

„… war sie auf der Durchreise“, unterbrach ich ihn. Das war ein neuer Gedanke, der mich aus meiner trüben Stimmung riss.

 

„Ein Zirkus vielleicht“, meinte Bernhard nebenhin. Ich sprang auf. Ja, das konnte die Lösung sein. Eine junge Frau, vielleicht eine Artistin, die mit einem Zirkus in die Stadt gekommen war und in die sich mein Urgroßvater verliebt hatte. Ich musste irgendwie an Dokumente aus dieser Zeit herankommen.

 

„Du musst in die Zeitungsarchive“, sagte Bernhard, „ich helfe dir suchen.“

 

 

 

Wir recherchierten drei Tage im Archiv der „Frankfurter Zeitung“, dann hatten wir eine heiße Spur.

 

Es gab einen Zirkus Romanelli, der vom 19. bis 24. Mai 1911 in Frankfurt gewesen war. Sie hatten ihr Zelt am Rebstock aufgeschlagen. Wir fanden Zeitungsanzeigen und Handzettel. Der Zirkus war nicht erste Kategorie. Aber es gab Tiere, es gab Dressurnummern, es gab Clowns. Und es gab eine Artistin namens Muriel. Es gab sogar eine Zeichnung von dieser Frau, hoch auf dem Seil mit Balancierstange, die eine entfernte Ähnlichkeit mit der Engelsfigur auf dem Domturm hatte.

 

„Muriel!“ rief Bernhard, „Muriel Romanelli! Das könnte M. sein!“

 

„Aber es ist sicher nicht ihr richtiger Name.“

 

„Muriel klingt ziemlich düster für einen Künstlernamen“, sagte Bernhard. „Wie kriegen wir raus, dass sie es war?“

 

Ich schwieg. Bernhard schwieg. Wir wussten beide, dass wir ohne weitere Hinweise nie erfahren würden, ob Muriel Romanelli die Frau war, die mein Urgroßvater in einen Engel verwandelt hatte.

 

„Gesetzt den Fall, sie war es“, sagte ich, „wie hätte die Geschichte ablaufen können?“

 

„Also gut“, meinte Bernhard, „wir haben keine andere Wahl als zu spekulieren. Entwerfen wir also ein Szenario: Nikodemus geht zwischen dem 19. und dem 24. Mai 1911 in eine der Vorstellungen des Zirkus Romanelli. Er sieht Muriel und verliebt sich auf der Stelle in sie. Liebe auf den ersten Blick. So was gibt’s.“

 

„Er war verheiratet“, warf ich ein. Ich musste an meine Urgroßmutter denken, die auf den wenigen Fotos, die es von ihr gab, ziemlich streng aussah. Bernhard bedachte mich mit einem undefinierbaren Blick.

 

„Seit wann hindert das einen Mann daran, sich zu verlieben?“, sagte er.

 

„Na gut“, fuhr ich fort, „nehmen wir an, er verliebt sich in sie. Er spricht sie nach der Vorstellung an. Sie ist von ihm angetan. Sie treffen sich irgendwo …“

 

„Auf dem Domturm!“, sagte Bernhard, „Sie treffen sich auf dem Domturm. Er hat gesehen, wo sie arbeitet. Er zeigt ihr, wo er arbeitet. Und da oben passiert es dann.“ Bernhard geriet sichtlich in Fahrt.

 

„Du hast zu viel Fantasie!“, bremste ich ihn. „Aber nehmen wir mal an, Muriel war tatsächlich auf dem Turm. Wie geht es dann weiter?“

 

„Dein Großvater war ein Steinmetz. Nein, mehr als das, er war ein Künstler!“

 

„Du meinst…“

 

„Was hättest du an seiner Stelle getan? Er findet sie schön, einzigartig schön und…“

 

„… entführt sie!“, ergänzte ich.

 

„Genau!“, sagte Bernhard. „Er entführt sie, weil er sie liebt und weil er sie in Stein verewigen will.“

 

„Gegen ihren Willen?“

 

„Nein. Sie macht mit, weil sie ihn auch liebt.“

 

„Und der Zirkus?“

 

Bernhard zuckte die Achseln.

 

„Muss ohne sie weiter ziehen.“

 

„Das müsste in den Zeitungen gestanden haben!“, warf ich ein.

 

„Wir müssen noch einmal ins Archiv“, sagte Bernhard.

 

 

 

Unsere Vermutung war ein Volltreffer.

 

Am 25. Mai des Jahres 1911 berichtete die „Frankfurter Zeitung“ in einem einspaltigen Artikel, dass von dem auf dem Rebstockgelände gastierenden Zirkus Romanelli eine Person als vermisst gemeldet worden sei. Es handele sich um die vierundzwanzigjährige Hochseilartistin Muriel Romanelli, die Frau des Zirkusdirektors. Die Polizei suche nach ihr, habe aber wenig Hoffnung, sie zu finden. Dass sich Zirkusleute von ihrer Truppe absetzten, komme immer wieder vor. Es sei nichts Ungewöhnliches.

 

Ansonsten machte man in Frankfurt offenbar nicht viel Aufhebens von dem Vorfall. Durchziehende Zirkusleute galten offenbar nicht sehr viel. Zwei Tage später gab es eine kleine Meldung, dass die vermisste Artistin noch nicht gefunden worden sei. Danach fand sich keine weitere Notiz mehr.

 

 

 

Ich saß mit Bernhard vor einem der Restaurants gegenüber der Schirn. Wir tranken unseren Apfelwein draußen an einem der Tische, von wo aus man einen guten Blick auf den Domturm hatte. Vor uns lagen Kopien der Zeitungsartikel zum Fall Romanelli.

 

„Die Zeitungsleute haben sich nicht viel Mühe gegeben“, meinte Bernhard. „Über Muriel gibt es nur spärliche Angaben.“

 

„Immerhin wissen wir jetzt, wie alt sie war und dass sie verheiratet war.“

 

„Ein Grund mehr für deinen Urgroßvater, sie zu verstecken“, sagte Bernhard.

 

M., die gewohnt ist, hoch oben zu leben“, murmelte ich.

 

„Was hast du da gesagt?“

 

M., die gewohnt ist, hoch oben zu leben“, wiederholte ich. „Das hat Nikodemus in sein Tagebuch geschrieben. Er könnte sie auf dem Turm versteckt haben.“

 

Bernhard sprang auf und lief im Zimmer auf und ab.

 

„Auf dem Turm… auf dem Turm… ja natürlich, wo sonst? Da vermutete sie niemand, und Nikodemus kannte jeden Winkel!“

 

„Und er hatte sie immer in seiner Nähe.“

 

„Sie stand ihm Modell für den Engel!“ Bernhard blieb stehen. „Wann ist der Unfall passiert, bei dem dein Urgroßvater umkam?“

 

„Das war der 3. September 1911.“ Ich wusste das Datum auswendig.

 

„Ende Mai ist Muriel verschwunden. Das heißt, dass sie den ganzen Sommer über mit Nikodemus auf dem Domturm gelebt haben könnte.“

 

„Und nach dem Tod von Nikodemus. Was hat sie da gemacht?“

 

Es entstand eine Pause. Wir hingen beide unseren Gedanken nach.

 

„An seinem Todestag hat er auch etwas in sein Tagebuch geschrieben“, sagte ich.

 

„Etwas über Muriel?“, fragte Bernhard.

 

„Ja. Nach M. sehen!! stand da. Mit zwei Ausrufezeichen.“

 

„Sonst nichts?“

 

„Nein, sonst nichts.“

 

Wir schauten uns ein paar Sekunden an. Dann wanderten unsere Blicke zum Domturm.

 

„Ich muss noch einmal da rauf!“, sagte ich.

 

„Wir müssen da rauf!“, sagte Bernhard, „Ich komme mit!“

 

 

 

Es kostete mich eine gute Viertelstunde Überredung und zwei Fünfzig-Euro-Scheine, bis der dünne Küster mir die Schlüssel für den Domturm ein zweites Mal aushändigte. Bernhard stand daneben und machte ein bedeutendes Gesicht. Ich hatte ihn als Experten für die Architektur von Sakralbauten vorgestellt, der mir bei der Erforschung der Stadtgeschichte helfen sollte. Dem Küster stand das blanke Misstrauen ins Gesicht geschrieben, aber er konnte den Euro-Scheinen nicht widerstehen. Wieder legte er den Schlüssel mit den drei Ringen auf den Türsturz und wieder musste ich ihn mir von dort holen.

 

Wir stiegen hinauf bis zum sechsten Stockwerk. Diesmal hatten wir Taschenlampen dabei, so dass die Wendeltreppe und die Tür zur Galerie keine großen Schwierigkeiten mehr darstellten. Als ich auf die Galerie hinaustrat, wurde Bernhard weiß wie die Wand. Er litt unter Höhenangst und wäre lieber gestorben, als einen Schritt aus der Tür hinaus zu tun. Er klammerte sich krampfhaft am Türrahmen fest. Es bereitete ihm körperliches Unbehagen, mich draußen herumturnen zu sehen.

 

Ich ging auf die andere Seite und beschrieb ihm das eingemeißelte N.B.

 

„Lass gut sein! Komm wieder rein!“, rief er mir zu.

 

„Nikodemus war wochenlang hier oben“, schrie ich zurück.

 

„Ist mir egal. Komm endlich rein!“

 

Bernhard atmete auf, als ich die Tür wieder hinter mir verschlossen hatte. Wir kletterten die Wendeltreppe hinunter und sahen uns auf dem sechsten Stockwerk um. Es war ein runder, fensterloser Raum. Unterhalb der Wendeltreppe befand sich ein kleiner Verschlag mit einer Tür.

 

„Wo hättest du Muriel versteckt, wenn du Nikodemus gewesen wärst?“, fragte ich Bernhard.

 

Er leuchtete mit seiner Taschenlampe die Tür des Verschlages an.

 

„Hier vielleicht. Probier mal, ob der Schlüssel passt.“

 

Ich versuchte den Schlüssel mit den drei Ringen ins Schloss zu stecken, merkte aber sofort, dass er nicht passte. Bernhard trat näher und nahm die Klinke in beide Hände.

 

„Leuchte mal!“

 

Ich konnte mir schon denken, was er vorhatte.

 

„Bernhard, nein, hör auf!“

 

„Lass mich mal machen.“

 

Er zog an der Klinke. Es knirschte. Der morsche Rahmen gab nach. Bernhard zog stärker. Ein Geräusch von splitterndem Holz und die Tür sprang auf. Wir warteten, bis sich die Staubwolke etwas gelegt hatte, dann leuchteten wir in den Verschlag hinein. Er war vollkommen leer.

 

„Mist“, zischte Bernhard durch die Zähne.

 

„Unten ist noch so ein Verschlag, aber ein größerer.“

 

„Wo unten?“

 

„Ein Stockwerk tiefer.“

 

Wir polterten hinunter. Unter der Treppe befand sich eine Konstruktion aus Brettern, die den freien Raum genau ausfüllte. Wieder standen wir vor einer Tür, aber diesmal passte der Schlüssel mit den drei Ringen. Ein gutes Zeichen. Wir betraten den Raum und schauten uns um. Es war dunkel und ziemlich eng, aber es sah fast gemütlich aus. Ein Stuhl, ein Tisch, ein niedriger Schrank, alles aus Brettern roh zusammengezimmert und von einer dicken Staubschicht bedeckt. Überall Spinnweben. Bernhard ließ die Taschenlampe kreisen.

 

„Hier war lange niemand.“

 

„Ja, aber das könnte das Versteck gewesen sein. Der Schlüssel…“

 

Bernhard nickte.

 

„Wir müssen irgendeine Spur finden, irgendetwas, was mit Muriel zu tun hat.“

 

Wir fingen an zu suchen, leuchteten jeden Quadratzentimeter der Wände ab. Es war nichts zu sehen. Auf dem Tisch fanden wir Wachsspuren. Der Verschlag musste mit Kerzen beleuchtet worden sein.

 

„Der Schrank!“, sagte Bernhard.

 

Ich zerrte an den Türen. Er war verschlossen.

 

„Der Schlüssel!“ Bernhard Stimme klang heiser vor Erregung. Das Jagdfieber hatte ihn gepackt. Ich spürte, wie mir die Hände zitterten, als ich den Schlüssel mit den drei Ringen ins Schlüsselloch steckte und drehte. Er passte. Mir wurde langsam klar, wieso er für meinen Urgroßvater so wichtig gewesen war, dass er ihn in seinem Tagebuch mit allen Einzelheiten verewigt hatte. Es konnte sogar sein, dass er ihn eigens hatte anfertigen lassen.

 

Das Innere des Schrankes war nicht sehr geräumig. Es gab oben ein paar Regalbretter und unten zwei Schubladen. Auf dem untersten Regalbrett lag etwas Weißes. Ich hielt es hoch.

 

„Ein Hemd“, sagte Bernhard.

 

„Ein Unterhemd“, sagte ich, „ein Frauenunterhemd.“

 

Es war aus fein gewebtem Leinen und sah genau so aus wie die Hemden und Blusen meiner Großmutter. Am Halsausschnitt und unten am Saum war ein schmaler Rand aus Spitze angenäht.

 

„Ob es Muriel gehört hat?“, fragte Bernhard.

 

„Keine Ahnung, es steht kein Name drin!“

 

„Witzbold!“

 

Als ich die rechte Schublade aufzog, konnte ich einen Laut der Überraschung nicht unterdrücken. Es lagen drei Kerzenstummel darin und ein kleiner Packen Papiere. Daneben ein einzelner Brief, der eilig aufgerissen worden sein musste, denn der Umschlag war ganz zerfetzt.

 

„Was steht drauf?“, fragte Bernhard und beugte sich zu mir hinunter.

 

Ich hielt den Brief in den Schein meiner Taschenlampe.

 

„An Nikodemus.“

 

Bernhard richtete sich auf.

 

„Ein Brief von Muriel!“

 

Ich sagte nichts, ich konnte nichts sagen. Die Zunge klebte mir plötzlich am Gaumen. Bernhard nahm mir den Brief aus der Hand, faltete ihn auseinander und las:

 

1. September 1911

 

Lieber Nikodemus,

 

wenn du das liest, bin ich schon weit weg. Suche mich nicht, du wirst mich nicht finden. Du warst drei Tage weg, und ich habe nachgedacht. Du weißt, dass ich dich liebe, aber ich halte es hier oben nicht länger aus. Die Glocken machen mich verrückt. Und die Einsamkeit, wenn du nicht da bist.

 

Dein steinerner Engel ist fertig, aber wie soll es mit uns weiter gehen? Ich habe dich das oft gefragt, und du hast mir keine Antwort gegeben. Ich bin nicht aus Stein. Und ich bin keine Frau, die man in einen Turm einsperren darf. Hast du das nicht gewusst?

 

Ich werde immer an dich denken, M.

 

„Muriel!“, murmelte ich.

 

„Sie ist abgehauen“, sagte Bernhard in sachlichem Ton. „Kann man verstehen. Sie war die Freiheit gewohnt.“

 

„Als Nikodemus zurückkam, war sie wahrscheinlich schon über alle Berge.“

 

Bernhard zog die Stirn in Falten.

 

„Und er hat den Brief gefunden. Muriel hat ihn am 1. September geschrieben.“

 

Wir schauten uns ein paar Sekunden lang an. Mein Urgroßvater stand mir auf einmal so deutlich vor Augen, dass ihn hätte anfassen können.

 

„Meinst du, er hat sich…?“ fing ich an. Ich brachte den Satz nicht zu Ende.

 

„Der 3. September war sein Todestag“, gab mein Freund zurück, „es könnte sein, dass sein Absturz kein Unfall war.“

 

„Sein Engel war fertig“, sagte ich.

 

„Sein Engel hatte ihn verlassen“, sagte Bernhard.