Schwarzes Meer
Mein Vater hatte mich gewarnt. Vor der Hochzeit nahm er mich beiseite.
Nimm ihn nicht, Isolde, er hat so was Fatales.
Aber ich liebe ihn.
Ich habe kein gutes Gefühl.
Findest du nicht auch, dass es in diesem Fall eher auf meine Gefühle ankommt?
Vater senkte den Blick und verstummte. Ich hätte auf ihn hören sollen damals. Aber ich war zwanzig, hatte diesen romantischen Nebel im Kopf und wollte Berthold unbedingt haben, obwohl wir uns
erst ein halbes Jahr kannten. Außerdem war da schon Alexander unterwegs. Was sollte ich machen? Ein Kind ohne Vater! Das hätten mir meine Eltern nie verziehen. Sie hätten zwar Haltung bewahrt –
Haltung ist mehr als das halbe Leben, meine Liebe, sagte meine Mutter immer – aber das wäre nur Fassade gewesen.
Nein, sie sind nicht laut geworden, als ich ihnen meine heimliche Verlobung mit Berthold beichtete. Sie haben auch nicht die Contenance verloren, als sie erfuhren, dass ich schwanger war. Mein
Vater biss die Zähne zusammen und schwieg. Ein paar Tage später sprach mich meine Mutter an, als wir einmal allein waren. Sie hatte für einen Moment ihre Haltung aufgegeben und fiel in einen
bitteren, klagenden Ton. Isolde, wo hast du deinen Verstand gelassen? Wozu haben wir dich auf das teure Internat geschickt? Damit du dir ein Kind andrehen lässt von so einem?
So einer, ja, das war er in den Augen meiner Familie. Viel mehr sagten sie nicht über ihn als: so einer. Sie brauchten ihn nicht näher kennen zu lernen, sie hatten ihren Instinkt. Ich hatte ihn
auch, den Instinkt. Aber ich wollte Berthold, ich hatte es mir in den Kopf gesetzt. Und dass meine Familie Widerstand leistete, kam mir gerade recht. Ich brauchte Widerstand, um herauszukriegen,
was ich durchsetzen konnte. Und ich konnte viel durchsetzen. Die Heirat mit Berthold allemal. Der war siebenundzwanzig und mitten im Referendariat. Lehrer, na gut. Aber warum ausgerechnet
Religion und Musik? Brotloses Zeug. Wenn er wenigstens Arzt oder Professor gewesen wäre, hätten sie sich vielleicht an ihn gewöhnt. Aber Lehrer? Lehrer war unter Niveau. So ein Aufsteigerberuf.
Lauter geduckte Existenzen, die die pädagogische Dreckarbeit für andere machen. Wer die Dreckarbeit macht, wird auch so behandelt. Originalton Vater. Meine Eltern behandelten Berthold wie einen
Bediensteten. Genau das reizte mich damals. Ich wollte ihn, meinen Aufsteiger, meinen fatalen Lehrer mit seiner Löwenmähne. Und ich wollte ihn gegen den Widerstand meiner abgebrühten, arroganten
Eltern.
Aber da gab es noch Wagner! Das war so ungefähr der einzige Berührungspunkt, den meine Eltern und Berthold hatten. Sie waren Wagnerianer, hörten sich stundenlang Aufnahmen von 'Tristan und
Isolde' an, zerdrückten bei Isoldes Liebestod ein paar Tränen und tauschten anschließend bedeutungsschwangere Sätze aus. Dabei kam heraus, dass sich jeder seinen eigenen Wagner im Kopf
zurechtgemacht hatte. Berthold badete in der unendlichen Melodie, meine Eltern in der germanophilen Untergangssehnsucht. Ich habe weder für das eine noch für das andere etwas übrig. Meine Eltern
hatten mich zwar Isolde genannt, aber sie hatten es nicht geschafft, eine Wagnerianerin aus mir zu machen. Im Gegenteil! Dass bei uns zu Hause ständig Wagner gespielt wurde, hat mich gegen den
Schwulst und das Pathos immunisiert.
Als wir heirateten, machte die Familie gute Miene zum bösen Spiel. Vater zahlte mir einen Teil meines Erbes aus, so dass wir uns ein Haus mit Garten in Kelsterbach kaufen konnten. Meine Eltern
besuchten uns anfangs häufig, später immer seltener. Wer sich von wem zurückzog, ist im Nachhinein nicht so klar auszumachen. Auf jeden Fall verdünnte sich der Kontakt.
Heute sehe ich das Ganze nüchterner. Insgeheim war mir bewusst, dass meine Eltern Recht hatten. Berthold und ich passten nicht wirklich gut zusammen. Aber ich wollte nicht, dass sie Recht hatten.
Ich wollte ihnen das Gegenteil beweisen. Nach sechzehn Jahren Ehe dachte ich schon, ich hätte Berthold endlich so weit.
Ich habe mich geirrt.
Wenn man einen Lehrer zum Vater hat, ist das schon ziemlich blöd. Benimmt man sich, ist man der Anpasser und Streber. Macht man irgendeinen Mist, heißt es: Lehrers Kinder und Pfarrers Küh'
gedeihen selten oder nie. Wie man es macht, ist es verkehrt.
Dass mein Alter ein Rad ab hatte, war mir schon seit längerem klar. Schon wie er aussah mit seiner grauen Einsteinfrisur. Und wie er immer rumsaß und brütete. Man hat gemeint, er brütet ein
Riesenei aus. Dazu dröhnte er sich ständig mit diesen nervigen Wagneropern zu. Wenn er mit seinen Klassenarbeiten und Vorbereitungen fertig war, saß er stundenlang in seinem bis oben hin
zugemüllten Arbeitszimmer über irgendwelchen Zeichnungen und Berechnungen, aus denen niemand schlau wurde. Dabei sprach er laut mit sich selbst oder summte vor sich hin, aber nur unverständliches
Zeug. Ab und zu hat er mir etwas gezeigt. Es sah nach was Technischem aus. Aber wenn ich ihn fragte, was das sein sollte, wich er immer aus. Wart's ab, hat er gesagt und und dieses komische
Grinsen im Gesicht gehabt, das ich nie an ihm leiden konnte. So eine seltsame Mischung aus Bescheidenheit und Arroganz. Eigentlich schließen die sich ja aus, aber im Grinsen meines Vaters kamen
sie gleichzeitig vor.
Dann rückte er endlich damit heraus. Es soll ein Schiff werden, hat er gesagt, eine hochseetaugliche Segelyacht. Das war eine echte Überraschung. Wir wohnen in Kelsterbach, ganz in der Nähe des
Frankfurter Flughafens. Ich hätte eher mit einem Flugzeug gerechnet. Oder wenn es schon ein Schiff sein musste, dann wenigstens ein Luftschiff. Andererseits war es wieder mal echt Vater.
Siebenhundert Kilometer vom Meer entfernt ein hochseetaugliches Boot bauen. So was Abartiges konnte nur ihm einfallen.
Ein Schiff! Und dazu noch ein selbst gebautes! Hier in Kelsterbach! Das muss man sich mal vorstellen. Ich gebe zu, ich habe ihn unterschätzt. Ich habe nicht geglaubt, dass er es wirklich tun
würde. Seit ich ihn kannte, machte Berthold hochfliegende Pläne, die regelmäßig an den Widrigkeiten des Lebens scheiterten. Aber diesmal machte er Ernst.
Ich habe auf ihn eingeredet wie auf ein krankes Pferd. Berthold, lass es, habe ich gesagt, es ist eine Schnapsidee. Ich ziehe das durch, sagte er, einmal in meinem Leben ziehe ich was Großes
durch, und du, Isolde, wirst mich nicht daran hindern. Dabei hatte er so was in der Stimme, dass ich sofort wusste, es hat keinen Zweck weiter zu reden.
Ein Schiff ist teuer, auch wenn man es selber baut. Wir waren nicht arm, aber wir hatten auch nicht so viel auf der hohen Kante, dass wir uns so ein Ding hätten leisten können. Erst als die
ersten Rechnungen für das Material kamen, erfuhr ich, dass Berthold von seinen Eltern Geld geerbt hatte. Knapp zweihunderttausend Euro. Wenn ich bis dahin gehofft hatte, sein Projekt würde an den
Finanzen scheitern, so war auch diese Hoffnung dahin. Ich nahm ihm übel, dass er die Erbschaft vor mir geheim gehalten hatte. Typisch Berthold. Versteck spielen war ihm in Fleisch und Blut
übergegangen. Was in seinem Kopf vorging, wusste niemand. Ich glaube, nicht einmal er selber wusste das.
Zu Beginn der großen Ferien verwandelte er den Garten hinter dem Haus in eine Werft. Zwei Birken und vier unserer alten Apfelbäume mussten dafür fallen. Ich hatte keine Chance, sie zu retten. Zum
Glück ließ er den alten Nussbaum stehen. Dann fingen sie an, das Gerüst zu bauen. Sein Freund Klaus, Allround-Handwerker und Maschinenbauingenieur im Ruhestand, half ihm dabei. Ohne Klaus hätte
Berthold wahrscheinlich schon in der ersten Woche das Handtuch geworfen, aber Klaus hielt ihn bei der Stange. Die beiden waren praktisch Tag und Nacht auf der Baustelle. Berthold setzte es durch,
dass Klaus bei uns einzog. Den ganzen Tag gingen Leute bei uns ein und aus. Es war erstaunlich, wie viele Männer, befreundete und wildfremde, nach und nach auftauchen und mitmachten. Ich glaube,
dass alle männlichen Wesen der näheren und weiteren Umgebung zwischen zehn und hundert irgendwann bei uns im Garten aufgetaucht sind. Bertholds Schiff übte einen magischen Sog aus. Bei mir
erhärtete sich der Verdacht, dass Männer in tiefster Seele kleine Jungs sind.
Ich stand vor unserer Gartenwerft, Hände demonstrativ in den Hosentaschen. Langsam konnte man schon erkennen, was es werden sollte. Mein Vater kam und pflanzte sich neben mir auf.
Hallo, Alex.
Hallo.
Und?
Was und?
Wie findest du's?
Na ja.
Was heißt na ja?
Na ja heißt na ja.
Mein Vater schaute mich von der Seite an, nickte und setzte sein bescheiden arrogantes Grinsen auf. Dann ließ er mich stehen.
Das Schiff ließ mich nicht so kalt, wie ich tat. Es fing langsam an, mich zu interessieren. Im Internet war einiges über die Neun-Meter-Klasse zu finden. Ich bekam heraus, dass mein Vater sich an
den alten Rennyachten aus Holz orientierte, die ich auch besonders schön fand. Nach der Schule ließ ich mich öfter auf der Werft blicken, legte hier und da auch mal Hand an. Mein Vater behielt
mich im Auge, sagte aber keinen Ton. Sein Ingenieurskumpel Klaus redete dafür umso mehr. Anfangs störte es mich, herumkommandiert zu werden, aber mit der Zeit merkte ich, dass Klaus ein
wirklicher Fachmann war. Er wohnte ja auch damals schon bei uns. Wenn überhaupt geredet wurde, dann wurde über das Schiff geredet. Ich habe in der Zeit viel von Klaus gelernt über Materialkunde,
Konstruktionsprinzipien und Bootsbau allgemein. Er spürte mein Interesse und machte mich zu seinem Assistenten. Mein Alter sah es und grinste nur dazu. Es ärgerte mich, dass er mich total im
Unklaren darüber ließ, was er eigentlich dachte. Fand er es nun gut, dass ich mich beteiligte? Oder war es ihm egal?
Meine Mutter hatte es inzwischen aufgegeben, ihm die Sache noch irgendwie auszutreiben. Sie schien sich mit dem Schiff abgefunden zu haben. Weil mein Vater sich nur noch um die Werft kümmerte,
erledigte sie alles, was notwendig war. Mit der Zeit schien sie sich an das Schiff im Garten zu gewöhnen. Sie ging sogar dazu über, Kaffee für die Männer zu kochen, die den ganzen Tag daran
herumwerkelten. Eines Abends stellte sie uns sogar einen Kasten Bier hin.
Kiel, Vordersteven und Spanten waren fertig, vorerst war es noch ein Gerippe, aber wenn die Beplankung erst einmal aufgebracht war, würde es schon wie ein Schiff aussehen. Neun Meter lang und
zweifünfzig breit, alles aus bestem Zedernholz wegen des Gewichtes und der Resistenz gegen Schädlinge, wie mir Klaus erläuterte.
Langsam änderte sich mein Blick auf meinen Vater. Ich lernte ihn als passablen Organisator kennen. Er arbeitete selbst kaum noch am Schiff, sondern übernahm die Bauleitung und sorgte dafür, dass
alles zur rechten Zeit am rechten Ort war. Da war er nicht schlecht, mein Alter, das muss man ihm lassen.
Ich hatte Berthold vor fünfzehn Jahren geheiratet. In den ersten beiden Jahre ging es ganz gut, aber dann fing die Probleme an. Er wurde zum Einzelgänger, zog sich immer mehr von Alex und mir
zurück und machte Sachen, die ich nicht verstand und die ich nicht billigte. Ich hatte es immer genossen, wenn er sich ans Klavier setzte und improvisierte. Das schlief mit der Zeit ganz ein.
Dann waren da die Urlaube. Berthold hatte irgendwann entschieden, dass wir ans Schwarze Meer fuhren, ins Hotel Odessa Beach. Und das jedes Jahr ohne Ausnahme. Ich wurde nicht gefragt und hatte
keine Chance, ihn davon abzubringen.
Sag mal, können wir nicht ein einziges Mal woanders hinfahren?
Wieso?
Na ja, wir waren jetzt sechs Jahre lang hintereinander am Schwarzen Meer, da könnten wir doch...
Das Schwarze Meer ist mein Meer, wie oft soll ich es dir noch sagen.
Ich dachte halt... Gebirge ist doch auch schön. Ich würde gerne mal zum Wandern in die Alpen fahren.
In die Alpen? Kommt nicht in Frage!
Warum denn nicht? Alexander kann doch auch mal etwas anderes kennen lernen.
Alex gefällt es sehr gut in Odessa.
Aber...
Kein Aber, Isolde. Denk mal an die Kosten. Nirgendwo sonst können wir so preiswert Familienurlaub machen.
Womit er natürlich recht hatte. So ging es bei vielen anderen Angelegenheiten. Er setzte sich durch, nicht weil er die besseren Argumente hatte, sondern weil er sich einfach nicht bewegte. Es
fiel ihm nicht ein, auf meine Wünsche einzugehen. Ich ertappte mich immer öfter dabei, dass ich ihn mit den Augen meiner Eltern betrachtete. Und da kam er nicht gut weg. Ich spürte diese
Vorbehalte in mir, die ich von meinem Vater kannte und die mir selber nicht gefielen.
Obwohl ich von Anfang an strikt dagegen war, nötigte mir die die Sache mit dem Schiff Respekt ab. Irgendwie war es imponierend, wie er das anging. Allerdings war er nur auf seiner Werft so
zielstrebig, ansonsten ließ er alles schleifen. Die ganze Alltagsorganisation musste ich übernehmen. Kümmer du dich drum, sagte er, du siehst ja, ich habe keine Zeit. Das war wieder typisch
Berthold. Wenn er die Energie, die er in sein Schiff steckte, für die Bewältigung unseres Alltagslebens aufgebracht hätte, wäre unsere Ehe vielleicht noch zu retten gewesen.
Sechs Wochen Sommerferien waren für mich immer eine lange Zeit. Spätestens nach drei Wochen fing ich an, mich zu langweilen und meine Kumpels in der Schule zu vermissen. Das lag aber auch daran,
dass wir immer im Urlaub immer ans Schwarze Meer fuhren. Immer das gleiche Hotel Odessa, immer der gleiche Strand, immer das gleich Essen, immer die gleichen Leute. Mit der Zeit hing es mir zum
Hals heraus. Aber mein Vater war stur, Mutter und ich schafften es nicht, ihn dazu zu bringen, mal irgendwo anders hin zu fahren.
Mit dem Schiff im Garten vergingen die sechs Wochen viel schneller als sonst. Als die Ferien vorbei waren, hatten wir schon mit den Aufbauten und dem Innenausbau angefangen. Dass alles so zügig
voran ging, war vor allem Klaus zu verdanken. Er war überall, konnte alles, hatte für alle Probleme eine Lösung. Ich bewunderte ihn aufrichtig dafür.
Meistens waren wir mit drei oder vier Mann auf der Werft. Es kamen immer welche vorbei, die Hand anlegten. Auch dafür sorgte Klaus. Er drückte den Zuschauern einfach eine Arbeit aufs Auge, und
dann blieben sie. Die handwerklich Begabten kamen wieder. Auf diese Art entstand ein richtiges Team.
Ich kann sagen, dass ich in diesen Sommerferien mindestens so viel gelernt habe wie in der Schule in einem Jahr. Allerdings keine Schulfächer, sondern Schiffbau, also Holz- und Metallbearbeitung,
sägen, bohren, schleifen, feilen, lackieren und solche Sachen. Das lernte ich hauptsächlich von Klaus. Von meinem Vater lernte ich, wie wichtig beim Bauen Planung und Logistik sind.
Was habe ich noch gelernt? Na ja, Bier trinken lernte ich auch.
Ich war nicht überrascht, als kurz nach den Sommerferien der erste Anruf von Dr. Vogel kam, Bertholds Schulleiter. Er wolle mit mir über meinen Mann sprechen. Was denn mit ihm los sei, er sei in
letzter Zeit ständig geistig abwesend, vernachlässige seinen Unterricht. Die Schüler und Eltern beschwerten sich schon. Er habe schon einige Male mit ihm gesprochen, allerdings ohne Ergebnis.
Jetzt wende er sich an mich, mein Mann sei darüber informiert. Ich schwankte kurz, ob ich Dr. Vogel nicht alles sagen sollte. Aber dann entschied ich mich aus irgendeinem Grund anders. Ich
erzählte ihm etwas von familiären Problemen, die sicher bald vorüber sein würden. Er blieb skeptisch, gab sich aber mit meiner Erklärung zufrieden. Ich versuchte mit Berthold zu reden.
Dein Schulleiter hat mich angerufen.
Ja, ich weiß.
Du hast Probleme in der Schule.
Nicht dass ich wüsste.
Mach mir nichts vor. Vogel sagt, dass sich die Schüler und Eltern schon beschweren.
So, tun sie das.
Das tun sie. Ist dir das etwa egal?
Ja, das ist mir egal.
Wenn du so weiter machst, setzen sie dich noch vor die Tür.
Ich bin Beamter auf Lebenszeit. Sie können mich gar nicht vor die Tür setzen.
Aber die Schule war dir doch immer wichtig.
Es gibt Wichtigeres.
Er zuckte die Schultern, wandte sich ab und ging wieder hinaus auf die Werft.
Später gab es noch einige Anrufe von Dr. Vogel. Ich sagte ihm nicht die Wahrheit, sondern erfand irgendwelche Familiengeschichten. Ja, ich war inkonsequent. Aber alles andere wäre mir wie Verrat
an Berthold vorgekommen. Er wusste, dass ich für ihn log. Einmal hat er sich sogar dafür bedankt. Ich weiß gar nicht genau, warum ich das tat. Er hatte sich schon weit von mir entfernt, wir
sprachen kaum noch miteinander.
Alexander, der anfangs sehr ablehnend gewesen war, arbeitete inzwischen als Assistent von Klaus mit am Schiff. Es hatte ihn gepackt wie alle anderen Männer.
Klaus wurde mit der Zeit ein guter Freund. Er hatte eine robuste Statur, sah aus wie ein Handwerker, aber er war ein Mann mit Zartgefühl und behandelte mich wie eine Dame, was mir gut tat.
Außerdem arbeitete er nicht nur am Schiff, sondern half mir auch sonst, wo er nur konnte. Wir ergänzten uns. Ich hatte das Gefühl, dass er mich mochte. Insgeheim dachte ich, dass ich besser einen
wie Klaus geheiratet hätte, so einen zupackenden Mann, der mit beiden Beinen auf der Erde steht und für alles eine Lösung parat hat.
Berthold sah, dass wir uns gut verstanden und schwieg dazu, wie er zu allem schwieg, was mit Gefühlen zu tun hatte. Da war er meinem Vater sehr ähnlich.
Wie soll das Schiff denn heißen?
Ich stellte die Frage einfach so bei einer Pause. Die Gespräche verstummten, alle Blicke wandten sich meinem Vater zu. Der starrte nur vor sich hin, sagte aber nichts. Ich ließ nicht
locker.
Ich meine, welchen Namen willst du dem Schiff denn geben?
Pause. Dann brummte mein Alter:
Weiß ich noch nicht.
Wieder Pause.
Das glaube ich nicht, schaltete sich Klaus ein, ich bin sicher, dass du schon einen Namen im Kopf hast.
Mein Vater schwieg.
Komm, Berthold, sagte Klaus, rück schon damit raus. Mich interessiert es auch.
Man sah, wie es in meinem Vater arbeitete. Er kämpfte mit sich.
'Tristan', sagte er schließlich, ich nenne es 'Tristan'.
Komischer Name, sagte Heinz, unser Nachbar von rechts, ich würde es 'Schwalbe' oder 'Möwe' nennen. Mein Vater schaute ihn an, ohne eine Miene zu verziehen.
Ich fand 'Tristan' auch komisch, bei seinem Wagner-Fimmel wunderte es mich aber nicht. 'Schwalbe' oder 'Möwe' war keinesfalls besser. So hieß jedes zweite Boot auf dem Main.
Ich erinnere mich noch genau, dass Klaus schlagartig ernst wurde, als mein Vater 'Tristan' sagte. Ich hatte keine Ahnung warum, aber ich hatte auch das Gefühl, es hätte keinen Zweck gehabt, wenn
ich nachgefragt hätte.
Im ersten Augenblick war ich erleichtert, als ich erfuhr, dass Bertholds Schiff 'Tristan' heißen sollte. Ich hatte schon befürchtet, er würde es 'Isolde' nennen. Das hätte mich gestört. Aber
'Tristan' war auch irgendwie merkwürdig. Es klang so programmatisch. Als hätte er sich selbst damit gemeint.
Dazu passte, dass er wieder anfing, Klavier zu spielen, was er lange nicht mehr getan hatte. Anfangs freute ich mich darüber, denn ich hatte sein Klavierspiel immer gemocht. Mit der Zeit
allerdings ging es mir auf die Nerven, weil er ausschließlich Klavierbearbeitungen von Wagneropern spielte.
Du spielst immer nur Wagner.
Ja.
Warum?
Wagner ist meine Musik.
Du könntest auch mal was anderes spielen. Ich höre dir gern zu. Spiel doch mal was von Mozart wie früher.
Mozart interessiert mich nicht.
Oder Bach?
Der interessiert mich auch nicht.
Aber früher hast du...
Ich spiele Wagner. Basta!
Es war nichts zu machen. Er blieb bei Wagner. Bei einem der seltenen Besuche meiner Eltern spielte er ihnen die komplette Lohengrin-Ouvertüre vor. Sie waren sichtlich beeindruckt. Mein Vater
nickte beifällig, meine Mutter war hingerissen. Das hatten sie nicht von ihm erwartet. Über das das Schiff im Garten verloren sie kein Wort. Sie fanden es bizarr, aber typisch Berthold.
Ich machte mir Sorgen um ihn. Je weiter das Schiff fortschritt desto weiter schien er von der Wirklichkeit wegzudriften. Er ließ sich krank schreiben, um nicht mehr in die Schule zu müssen. Sein
Schulleiter wusste inzwischen von dem Schiff und drängte Berthold, sich beurlauben zu lassen oder die Schule zu wechseln.
Immer öfter saß er ganz allein unter dem großen Nussbaum im Garten und betrachtete sein Schiff, das inzwischen schon ziemlich weit gediehen war. Ich hätte gern mit ihm geredet, aber er
verweigerte sich. Seine Einsilbigkeit wurde mit der Zeit beängstigend. Auch früher war er schon nicht sehr mitteilsam gewesen, aber wir hatten wenigstens hin und wieder miteinander gesprochen.
Jetzt verschloss er sich total. Ich hatte keine Ahnung, was in ihm vorging.
Ich erinnere mich noch genau an den Tag, die Minute und sogar die Sekunde, als das Schiff fertig war. Es war Mittwoch, der 18. Juli 2012, 15.23 Uhr und 35 Sekunden. Es gab einen richtigen
Countdown, oder besser gesagt, ich inszenierte einen Countdown, der genau in dem Augenblick endete, als mein Vater ein letztes Mal über den Bootsrumpf strich und dann die Hand wegnahm.
Fertig!
Drei Sekunden lang standen etwa ein Dutzend Männer stumm und ergriffen vor ihrer Schöpfung. Dann brach der Jubel los. Sektgläser wurden gefüllt und herumgereicht.
Auf das Schiff!
Ja, auf die 'Tristan'!
Jetzt muss es noch getauft werden, sagte Klaus.
Mein Vater schaute ihn überrascht an.
Ich fand, dass Klaus recht hatte. Ein Schiff, das nicht getauft ist, hat keine glückliche Fahrt, das ist doch klar. Bevor ein Schiff vom Stapel läuft, muss eine Sektflasche am Bug zerdeppert
werden. Und die Aufgabe muss eine Frau übernehmen. Schiffe sind immer weiblich.
Mutter kann das doch machen, schlug ich vor.
Mein Vater starrte mich mit einem ganz seltsamen Gesichtsausdruck an. Ich rechnete schon damit, dass er gleich ausflippen würde.
Guter Vorschlag, Alex, sagte Klaus.
Die anderen stimmten ihm lebhaft zu. Mein Vater presste die Lippen zusammen und schwieg. Ich hatte schon geahnt, dass es zwischen meinen Eltern nicht mehr stimmte, aber jetzt wusste ich es.
Also dann, bringen wir es hinter uns, sagte Klaus.
Mutter wurde hergebeten, und Klaus erklärte ihr kurz die Zeremonie. Im ersten Augenblick dachte ich, sie weigert sich, aber als Klaus ihr sagte, dass der Vorschlag von mir gekommen sei, erklärte
sie sich bereit. Mein Vater wollte aber unter keinen Umständen eine Sektflasche am Bug zerschellen lassen. Er bestand darauf, dass Mutter höchstens ein Glas mit Sekt über dem Namenszug ausgießen
dürfe. Klaus gab zu bedenken, dass dann die ganze Taufe vielleicht nicht gelten würde. Vater machte darauf ein so grimmiges Gesicht, dass Klaus klein beigab und Mutter ein volles Sektgas
reichte.
Ich taufe dich auf den Namen Tristan, sagte sie, allzeit gute Fahrt.
Mit diesen Worten goss sie den Sekt über den Bug. Es herrschte eine richtig feierliche Stimmung in diesem Augenblick. Ich kam mir vor wie in der Kirche.
Ich muss vielleicht noch etwas zum Schiff sagen. Dafür, dass es unser erstes war und wir alle keine gelernten Bootsbauer waren, war es wirklich sehr gut gelungen. Vater hatte das Schiff natürlich
nicht völlig neu entworfen, sondern sich an alten Rennyachten der Neun-Meter-Klasse orientiert. Wir hatten unter der fachkundigen Anleitung von Klaus fast ein ganzes Jahr lang daran gebaut. Es
war ein schnittiges Schiff geworden. Und es war auf eine altmodische Weise schön. Das Zedernholz hatte durch den Bootslack eine warme Honigfärbung angenommen. Die Beschläge waren teilweise aus
Messing, teilweise aus verchromtem Stahl. Der Mast war ebenfalls aus Holz, weil mein Vater keinen Alu-Mast wollte. Der Kiel musste natürlich aus Metall sein, aber sonst war sein Motto: So wenig
Metall wie möglich. Er bestand auch auf Tuchsegeln, die es kaum noch zu kaufen gibt, weil die modernen Segel alle aus Kunstfasern sind. Aber er trieb einen alten Segelmacher auf, der sie ihm nach
Maß anfertigte. Ansonsten war alles dran, was eine moderne hochseetaugliche Segelyacht so braucht. Auch eine kleine Kombüse und ein Yamaha-Außenborder.
Besonders cool fand ich die Stereoanlage. Sie war vielleicht ein bisschen zu pompös. Mein Alter meinte, er brauche so was, Wagner könne man nicht piano genießen. Ich stellte mir vor, dass ich auf
hoher See mit full power die Toten Hosen hören würde.
Natürlich Odessa! Natürlich das Schwarze Meer! Wie hätte es auch anders sein können. Die Nordsee oder das Mittelmeer waren ihm zu popelig. Sein Meer musste es sein, und das war nun einmal das
Schwarze Meer. Er trieb einen gebrauchten Bootsanhänger auf, der aber erst noch für das Schiff umgebaut werden musste.
Ich wollte eigentlich nicht mitfahren. Ich hatte keine Lust auf Odessa, keine Lust auf das Schiff, keine Lust auf Berthold. Es war Alexander, der mich überredete.
Ich glaube, Papa würde sich sehr freuen, wenn du mitkämst zum Jungfernlauf.
Woher weißt du das? Mir hat er nichts gesagt.
Ich weiß es eben. Du kennst doch Papa, der schickt dir keine Einladung.
Dann soll er eben alleine fahren mit seinem blöden Schiff.
Er fährt nicht allein. Ich bin dabei, und Klaus kommt auch mit.
Nein, ich will nicht.
Mama, er braucht dich. Er will, dass du dabei bist. Wirklich!
Ich ließ mich breitschlagen. Aber ich fuhr nicht wegen Berthold oder dem Schiff mit, sondern ein bisschen wegen Alexander, aber vor allem wegen Klaus.
Es war schon eine eindrucksvolle Karawane, die am Morgen des 5. August Kelsterbach in Richtung Schwarzes Meer verließ. Fast die ganze Straße stand Spalier und winkte. Klaus zog den Bootsanhänger
mit seinem alten Volvo Kombi, in dem auch die ganzen Bootssachen verstaut waren. Ich saß neben Klaus. Berthold und Alexander folgten in unserem Golf mit dem restlichen Gepäck, für das wir noch
extra eine Dachbox anschaffen mussten.
Wir kamen nicht sehr schnell voran mit dem schweren Bootsanhänger im Schlepp. Aber das machte mir nichts. Ich unterhielt mich mit Klaus über Gott und die Welt und das Leben. Wenn er mit seinen
braunen Augen zu mir herüber sah, bekam ich heiße Ohren und lächelte wie ein kleines Mädchen. Ich konnte nicht anders. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass mich ein Mann verstand. Ich musste
mich zurückhalten, dass ich ihm nicht die Hand auf den Oberschenkel legte.
War schon toll, die Fahrt durch Österreich, Rumänien und Bulgarien. Wir waren eine Attraktion. In den Dörfern liefen uns die Kinder nach.
Wir übernachteten in Motels an der Autobahn und später in kleinen Gasthäusern. Auch das hatte mein Vater Etappe für Etappe akribisch geplant. Wir konnten uns voll darauf verlassen, dass es immer
einen Abstellplatz für das Boot gab und einigermaßen gute Betten für uns vier.
Als wir in Odessa ankamen, dirigierte er uns zu einem verlassenen Hafenteil in der Nähe von X. Dort stellten wir in einem Schuppen das Schiff ab und fuhren zum Hotel Odessa. Es erschien mir
diesmal anders als sonst. Das kann am Hotel gelegen haben, aber auch daran, dass ich mich verändert hatte.
Wir saßen im Speisesaal zusammen, tranken Wein und unterhielten uns über die Reise und über das Schiff. Mein Vater war gesprächiger als sonst.
Morgen Abend ist die Jungfernfahrt.
Warum abends, fragte Klaus.
Wegen der Stimmung.
Mutter lachte. Klaus legte den Kopf schief.
Du bist ein unverbesserlicher Ästhet.
Ja, genau, sagte mein Vater, ihr werdet sicher verstehen, dass ich bei der Jungfernfahrt allein auf dem Schiff sein will.
Allein mit Wagner und 'Tristan', sagte meine Mutter und versuchte sich an einem romantischen Tonfall. Vater schaute sie ernst an.
Ja, Isolde.
Mir fiel auf, dass er sie bei ihrem Namen nannte, was ich schon lange nicht mehr erlebt hatte. Klaus schien sich nicht wohl dabei zu fühlen, dass mein Vater die Jungfernfahrt allein machen
wollte. Er machte den Mund auf, aber mein Vater kam ihm zuvor.
Ich bitte dich, Klaus, lass mich!
Er fuhr in der Abenddämmerung hinaus. Nach der Hitze des Tages war es noch angenehm warm. Die Sonne war blutrot untergegangen, die Luft war klar. Es wehte eine leichte Brise, höchstens zwei
Windstärken. Vor dem rosaroten Himmel zeichnete sich die elegante Silhouette der 'Tristan' ab. Wir standen an der Mole und schauten zu. Klaus hatte das Fernglas und beobachtete.
Die Anfangstakte von 'Isoldes Liebestod' drangen vom Schiff herüber. Man hörte jeden Ton, die Anlage war wirklich Spitze. Mutter wechselte einen Blick mit Klaus und schüttelte den Kopf.
Unverbesserlicher Melodramatiker, sagte sie.
Die 'Tristan' sah majestätisch aus, wie sie dahinglitt. Es war gerade so viel Wind, dass man ahnen konnte, wie schnell sie bei fünf oder sechs Windstärken sein würde. Ich war ein bisschen stolz
auf meinen Vater, dass er es tatsächlich geschafft hatte mit dem Schiff. Und auch auf mich, dass ich dabei gewesen war und mitgeholfen hatte. Ich glaube, wir waren in diesem Augenblick alle
ergriffen, auch Mutter, die neben mir stand und ein Taschentuch in der Hand zerknüllte.
Als die 'Tristan' ungefähr einen halben Kilometer vom Strand entfernt war, wurde die Musik auf einmal lauter. Mein Vater musste die Anlage voll aufgedreht haben. Ich bin kein Wagner-Fan, aber ich
muss sagen, dass die Musik exakt zur Stimmung und zum Bild passte.
Oh nein, sagte Klaus, was macht er denn mit dem Benzin?
Ich wollte das Fernglas haben, aber Klaus gab es mir nicht.
Was dann geschah, hatte niemand erwartet. Allerdings habe ich Klaus im Verdacht, dass er es von Anfang an wusste. Aber er hat keinen Ton gesagt, auch später nicht, als ich ihn direkt
fragte.
Die Stichflamme schlug hoch bis zur Mastspitze. In wenigen Sekunden stand das Schiff vom Bug bis zum Heck in Flammen. Mutter schrie auf und presste das Taschentuch vor den Mund. Mein Vater hatte
gut vorgearbeitet. Er musste einige Kanister Benzin über das ganze Schiff verteilt haben. Das Tuchsegel und das trockene Holz brannten wie Zunder, es gab fast gar keinen Rauch.
Berthold, du verdammter Idiot, schrie Klaus.
Dann wandte er sich ab und drückte mir das Fernglas in die Hand. Meine Mutter stand regungslos da. Klaus ging zu ihr und nahm sie in die Arme.
Mein Vater lag auf dem Dach der Kajüte auf dem Rücken und hielt die Hände über der Brust gefaltet. Es sah aus, als läge er auf einer Bahre. Die Flammen waberten um ihn herum. Im Nachhinein nehme
ich an, dass er irgend etwas schnell Wirkendes genommen hatte. Ein solches Höllenfeuer kann niemand aushalten, wenn er nicht betäubt ist. Die Flammen schlugen immer höher. Man konnte sie prasseln
hören. Und dazu diese laute Wagner-Musik.
Ich starrte durch das Fernglas. Plötzlich fiel mir ein, woran mich die Szene erinnerte. Ich hatte so etwas schon einmal in einem Film gesehen. Die nordischen Fürsten wurden so bestattet. Man
bahrte sie auf einem Schiff auf, das in der Dunkelheit auf einen See oder aufs Meer hinaus trieb. Dann setzte man das Schiff in Brand. Der letzte Eindruck, der von dem Fürsten blieb, war ein
großes feuriges Zeichen.
Ich nahm das Fernglas herunter. Seltsamerweise empfand ich in diesem Augenblick weder Panik oder Aufregung noch Trauer. Ich dachte nur: Jetzt stirbt er, jetzt stirbt mein Vater. In diesem Moment
brach die Musik ab. Es war inzwischen dunkler geworden, und das Schiff leuchtete wie eine Fackel vor dem Horizont. Es sah grauenvoll schön aus. Plötzlich eine dumpfe Explosion. Ein mächtiger
Feuerball schoss aus dem Kajütendach. Die Gasflasche! Dann ging alles sehr schnell. Wasser musste in den Rumpf eingedrungen sein, und der Kiel zog das Schiff in die Tiefe. Der Feuerschein
erlosch. Das Schwarze Meer war in diesem Moment wirklich ganz schwarz.
Er hat nichts dem Zufall überlassen, sagte Klaus.
Nein, sagte meine Mutter.
Es passt zu ihm.
Ja.
Ich sagte nichts. Ich hatte Tränen in den Augen und einen Kloß im Hals.
Wir standen stumm nebeneinander und starrten hinaus zu der Stelle, wo die 'Tristan' untergegangen war. Ich sah, wie meine Mutter ihre Hand in die von Klaus gleiten ließ und wie er sie nahm und
drückte.
Es schwammen nur noch ein paar verkohlte Wrackteile herum und ein Rettungsring, als die Löschboote von Odessa aus eintrafen. Zu retten war nichts mehr. Es gab eine Menge Schwierigkeiten mit den
Behörden, aber ich bekam davon fast nichts mit. Klaus hat das alles für mich erledigt.
Wir haben das Wenige, was von dem Schiff übrig war, in der Nähe von Odessa am Strand vergraben. Den Bootsanhänger haben wir in Odessa verkauft, den Rettungsring wollte Alexander behalten. Er war
nach Bertholds Tod übrigens ganz ruhig und gefasst, wirkte irgendwie erwachsener als vorher.
Berthold hat kein Testament hinterlassen. Ich glaube, die Inszenierung war so etwas wie sein Vermächtnis. Er hat die Oper geliebt, das große Theater, die grandiose Geste. In Kelsterbach war er
damit am falschen Ort, und ich war wahrscheinlich auch die falsche Frau für ihn. Ich glaube, wir haben uns eigentlich nicht gekannt. Jetzt, wo er tot ist, kann ich an ihn denken ohne Groll.
Ich bin mit Klaus und Alex zu meinen Eltern gefahren und habe es ihnen gesagt. Mutter behielt wie immer die Fassung, und Vater murmelte etwas vor sich hin. Weil ich direkt neben ihm stand, bekam
ich es mit.
So was Großes hätte ich ihm gar nicht zugetraut.
(c) Paul Pfeffer